Die Regierung will jede Debatte über Mitverantwortung bei größter Industriekatastrophe der türkischen Geschichte verhindern. Die Justiz geht nun gegen Manager der Betreiberfirma vor.
Soma/Istanbul. Nach Abschluss der Bergungsarbeiten in der Unglückskohlegrube im westtürkischen Soma am Wochenende will die Regierung in Ankara offenbar weitere kontroverse Debatten über eine Mitschuld der Politik verhindern. In Soma selbst wurde nach Zusammenstößen zwischen Polizei und Protestierenden vorsorglich ein Demonstrationsverbot erlassen. Auch in Istanbul ging die Polizei gegen Soma-Demonstranten vor.
Die Opposition und zahlreiche Bürger werfen der Regierung von Premier Recep Tayyip Erdoğan vor, die Verantwortung für den schlimmsten Industrieunfall in der Geschichte des Landes – zuletzt lag die Zahl der Toten bei 301 – allein auf die Betreiberfirma schieben zu wollen. Zudem hatten sich Erdoğan und mehrere seiner Mitarbeiter nach der Katastrophe extrem unpassend verhalten.
Manager verhaftet
Die Staatsanwaltschaft ließ am Sonntag 16 Personen im Zusammengang mit dem Unglück vom vergangenen Dienstag festnehmen, darunter leitende Manager der Betreiberfirma Soma-Holding. Der Eingang zum Bergwerk wurde abgeriegelt. Das Unternehmen hatte alle Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Unglück zurückgewiesen.
Überlebende berichten jedoch von groben Versäumnissen. So sollen in der Grube die Sauerstoffsensoren ausgeschaltet worden sein, weil sie bei sinkendem Sauerstoffanteil in der Luft die Produktion automatisch stoppen könnten. Zudem hätten sich in den Tagen vor dem Unglück die Stollen merklich erhitzt, doch die Firmenleitung habe alle Warnungen ignoriert.
Im Parlament will die Regierungspartei AKP einen Untersuchungsausschusses zum Unglück einrichten lassen. Oppositionspolitiker erklärten, die AKP wolle sich und die Regierung reinwaschen und alle Schuld auf die Firma schieben. Wenige Wochen vor dem Unglück hatte die AKP im Parlament einen Oppositionsantrag auf Untersuchung von Missständen in der Soma-Grube abgeschmettert.
Auch die regierungsnahe Presse schießt sich zunehmend auf das Unternehmen als Verantwortlichen ein. Vizepremier Emrullah Isler versprach eine Bestrafung aller Schuldigen – doch politische Konsequenzen kommen für die Regierung offenbar nicht infrage. Die Minister für Energie und Arbeit, Taner Yildiz und Faruk Celik, sind weiter im Amt. Auch der wegen seiner Tritte gegen einen auf dem Boden liegenden Demonstranten in Soma heftig kritisierte Erdoğan-Berater Yusuf Yerkel ist für den Premier tätig.
„Es wird wieder alles vertuscht“
Laut Presseberichten will Erdoğan demnächst staatliche Hilfen für die Angehörigen der Opfer verkünden. Kritische Fragen an die Regierung kann er damit nicht verhindern. So sagte Mustafa Ali Bilir, der Bruder eines getöteten Bergarbeiters, bei einem Gespräch mit Arbeitsminister Celik, Politiker versprächen seit Jahrzehnten bessere Arbeitsbedingungen, doch nichts werde getan. Stattdessen fließe Schmiergeld. Als Celik entgegnete, diesmal werde die Regierung handeln, antwortete Bilir: „Das glaube ich nicht. Es wird wieder alles vertuscht.“
Erdoğan wolle keinerlei Kritik an der Regierung zulassen, weil er fürchte, beim kleinsten Schuldeingeständnis „alles zu verlieren“, schrieb der Kolumnist Murat Yetkin in der Zeitung „Radikal“. Der Premier gilt als sicherer Kandidat bei der ersten Direktwahl des türkischen Präsidenten im August. Umfragen zu etwaigen Auswirkungen des Soma-Unglücks auf seine Popularität gibt es noch nicht.
Erdoğan geriet vor allem unter Beschuss, weil er bei einem Besuch in Soma Bergwerksunfälle als normal bezeichnete und laut Medienberichten ein Mädchen und einen Mann schlug, die er für Regierungsgegner hielt. Der Mann, Taner Kuruca, widerrief in einem regierungsnahen Fernsehsender seine Angaben und sagte, Erdoğan habe ihn nicht geschlagen, sondern „beschützt“.
HINTERGRUND
In Soma (Südwesttürkei) hat es vorigen Dienstag eine gewaltige Explosion in einer Kohlegrube gegeben – mitten im Schichtwechsel, als besonders viele Kumpel in der Grube waren. Viele Männer wurden sofort getötet, viele andere erstickten langsam, als die Notsauerstoffgeräte leer wurden. 301 Kumpel kamen laut aktuellsten und vermutlich abschließenden Zählungen ums Leben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2014)