Grätzeltour Stammersdorf: Wilder Gemischter Satz

Wirt und Autor Wolfgang Salomon führt durch Floridsdorf entlang einer Tramwaylinie – und vom Gemeindebau bis zum Stammersdorfer Lösskeller.

Die Strecke der Straßenbahnlinie 31 ist so lang, dass Heurigenbesucher, die in Stammersdorf einkehren, wieder halbwegs nüchtern sind, wenn sie am Schottenring aus der Tramway klettern. Jedenfalls ist der 31er ein gutes Vehikel für transdanubische Besichtigungstouren, weil sie an vielen Schön- und Schrecklichkeiten der Wiener Baugeschichte und -typen mehr oder weniger nah vorbeiführt: an martialischen Flaktürmen im Augarten – und an einem unvollendeten Bunker in der Gerichtsgasse in 1220. An riesigen Gemeindebauten und an ambioniertem bis trostlosem Wohnbau. An zusammenhanglosen Gewerbeobjekten, an gründerzeitlicher Substanz, an biedermeierlichen Ensembles. Für Wolfgang Salomon, Wirt („Spezerei“ am Karmeliterplatz) und Autor der Buchserie „Abseits der Pfade“, führt diese Wiener Linie durch ein Stück Heimat und eines der Reviere in seinem vor Kurzem veröffentlichten Wien-Band.
Nach Floridsdorf verirren sich Touristen und Cisdanubier selten, was den lokalen Weinkonsumenten nicht stört. Gleichmäßig schön ist es hier nicht, vielmehr hybrid, mit wilden Brüchen. Willkürlich verbaut scheinen die Flächen zwischen Stammersdorf, Jedlersdorf und den anderen Bezirksteilen von der Donau bis zum Bisamberg – wie ein wilder Gemischter Satz. Auch das scheint die rund 149.000 Bewohner nicht arg zu kratzen, zeigen viele doch mehr Treue zu ihrem Bezirk (immerhin sollte Floridsdorf einmal Niederösterreichs Hauptstadt werden) als in anderen Vierteln. Dabei blieb vieles nicht, wie es war, „vor allem seit den vergangenen drei, vier Jahren hat sich die Atmosphäre verändert“, meint Salomon. Unterwegs zwischen Prager und Brünner Straße schleichen sich daher Sätze wie „Früher war das eine lebendige Einkaufsstraße“ oder „In der Angerer Straße gab's ein bekanntes Café“ oder „Da stand eine der größten Konsum-Filialen Österreichs“ ein. Weg sind die Lokomotivwerke, das Weisselbad wartet darauf, wie ihm geschieht. Die größte Veränderung brachte aber die Ausdehnung: „Vor 15 Jahren hat die Stadt hier aufgehört“, erklärt Salomon auf Höhe der Van-Swieten-Kaserne. Nun haben Wohnsiedlungen die Brachen bis zum Stadtrand, bis zum „Rendezvousberg“ geschlossen.
Was bleibt, sind historische Fakten und kuriose Fußnoten wie Kriminalfälle, von denen Salomon gern berichtet. Nicht, dass Floridsdorf ein gefährlicheres Pflaster war als andere. Aber ländlicher, eigenständiger. Zum Teil auch wehrhafter, etwa im Roten Wien der Zwischenkriegszeit: „Gemeindebauten wie der Paul-Speiser-Hof wurden mit schussfreier Linie gegen die Innenstadt ausgerichtet“, erklärt Salomon. Am Schlingerhof, wo sich heute der Floridsdorfer Markt befindet, zeugen Einschusslöcher und eine Gedenktafel vom Kampf 1934. Auf dem zentralen Punkt, dem Floridsdorfer Spitz, wurden nur wenige Tage vor Kriegsende die Mitglieder der Operation Radetzky gehenkt.

Archaische Optik

Nicht mehr vorzustellen ist auch, dass hier das ganze Weinviertel einkaufen ging: „Das war für sie die Mariahilfer Straße“, sagt er nicht ohne einen Anflug von Nostalgie.
Wo der Bezirk noch am konstantesten ist, zeigt sich in der Jedlersdorfer Amtsstraße, wo sich die bekannten Winzer aneinanderreihen – allen voran nennt Salomon das Weingut von Peter Bernreiter. Noch ein Stück weiter, in den Stammersdorfer Kellergassen, wird Floridsdorf ganz urtümlich. Archaisch muten die in den Löss getriebenen Keller an, manche Tür ist mit Spinnweben verhangen, manche so, als wäre gerade ausgesteckt. Das ist es auch, weil an diesem Wochenende die „Stürmischen Tage“ durch die hohlen Gassen fegen.

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