Die Kür eines neuen ÖVP-Obmanns wird so ablaufen wie acht andere Parteitage seit 1975: Beschwörung und Beweihräucherung. Mitterlehner braucht aber anderes.
Es braucht nicht viel Fantasie, nur etwas Erfahrung, 40 Jahre vielleicht, um sich vorzustellen, wie der Parteitag der ÖVP in Wien heute, Samstag, ablaufen kann: Reinhold Mitterlehner wird bei seiner Wahl zum neuen Obmann ein Traumergebnis erzielen. Die Delegierten werden den Tagungsort in Wien wie Popeye der Seemann verlassen. Was für die Comicfigur eine große Portion Spinat zwecks Entwicklung ungeahnter Kräfte ist, werden für die ÖVP-Funktionäre aufmunternde Reden nach der Art des Hauses ÖVP sein: Selbsttäuschung, Selbstbetrug und die Illusion, mit der Kür eines neuen Obmanns schon die nächste Wahl gewonnen zu haben. Und jetzt noch die Django-Musik und die Wähler werden weich sein. Morgen wird alles anders.
Das Popeye-Bild ist noch bei jedem Obmannwechsel seit 1975 aufgetaucht. Jedesmal glaubten die Parteitagsdelegierten, damit schon den nächsten Sieg in der Tasche zu haben. Sie verließen beruhigt die diversen Veranstaltungshallen. Das war bei Josef Taus so, bei Alois Mock erst recht, sogar bei Josef Riegler, bei Wolfgang Schüssel, Wilhelm Molterer, Josef Pröll und Michael Spindelegger. Einzige Ausnahme: die Kampfabstimmung zwischen Erhard Busek und Bernhard Görg 1991. Aber selbst da wurde danach Geschlossenheit beschworen.
Allein, mit der eh schon gewonnenen nächsten Wahl und den eh ungeahnten Kräften wurde es nie etwas. Noch kein neuer Obmann hat die auf einem Parteitag aufgeputschten Erwartungen erfüllt. Wenn Reinhold Mitterlehner klug ist, dann nimmt er weder das Traumergebnis der Obmannwahl noch die meist um einen Deut zu überschwänglichen Beteuerungen der bedingungslosen Unterstützung ernst.
Wenn Mitterlehner klug ist, erinnert er sich an seine Parteifreundin, Ex-Landeshauptfrau Waltraud Klasnic, die unter Hinweis auf das Katholische in der ÖVP einmal über die Lüge eines Parteifreundes gesagt haben soll: Kein Problem, geht er halt beichten, und alles ist wieder gut. Manchmal hatte man in der Vergangenheit schon den Eindruck, als hätten sich kurz nach einem Parteitag alle Delegierten bei einem Beichtstuhl angestellt.
Wenn Mitterlehner klug ist, weiß er die verbalen Muskelspiele heute – auch seine eigenen – richtig einzuschätzen. Politischer Erfolg stellt sich – auch das zeigt die Vergangenheit – meist dann ein, wenn zwei Persönlichkeiten über Parteigrenzen hinweg zu einer konstruktiven Zusammenarbeit finden. Mehr noch, wenn die Chemie zwischen zwei Politikern oder Politikerinnen stimmt.
Mitterlehner kennt das Gefühl vielleicht bereits aus seiner Regierungsarbeit mit Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ). Er sollte sich aber an einige politische Paarläufe erinnern: Bruno Kreisky und der Chef der Industriellenvereinigung, Hans Igler, Rudolf Sallinger (ÖVP) und Anton Benya (SPÖ), Finanzminister Ferdinand Lacina (SPÖ) und Johannes Ditz (ÖVP), aktuell in der Steiermark Franz Voves und Hermann Schützenhöfer, Josef Pühringer und Rudi Anschober von den Grünen, nur als Beispiele.
Wenn Mitterlehner klug ist, dann versucht er, ein Vertrauensverhältnis mit Werner Faymann so zu festigen, dass es zu einem – soll sein stillschweigenden – Übereinkommen zum Wohl des Landes kommt. Dass Faymann mit drei ÖVP-Obmännern nicht konstruktiv zusammenarbeiten kann, ist zwar nicht ausgeschlossen, aber doch wenig glaubwürdig. Wie viele denn noch?
Das heißt, Mitterlehner muss einerseits in die Sticheleien zwischen Faymann und dem noch populären Finanzminister Hans Jörg Schelling eingreifen. Wie schnell daraus wieder Streit wird, hat sich jetzt wieder bei der Steuerreform gezeigt.
Andrerseits wird er verhindern müssen, dass Schelling vor der Zeit genervt das Amt wieder hinwirft. Er sei dazu durchaus imstande, heißt es. Deshalb sind Sticheleien und Streit zu vermeiden. Weder für das eine noch das andere braucht Mitterlehner heute verlogene Ergebenheitsbekundungen. Nur gesunden Menschenverstand.
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Zur Autorin:
Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.11.2014)