Karfreitagsprozession: Korsikas Ostergeheimnis

Karfreitagsprozession: Korsikas Ostergeheimnis
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Bei der Karfreitagsprozession im mittelalterlichen Sartène gibt der berühmte verhüllte Büßer jedes Jahr Rätsel zu seiner Identität auf.

Barfuß und ganz in Rot gekleidet schreitet der Mann über das kalte Kopfsteinpflaster der Rue Joseph Tafanelli. Seinen Körper verhüllt eine Kutte, die Hände stecken in Wollhandschuhen, Kopf und Gesicht sind unter einer Stoffmaske verborgen. Mit seinem rechten Arm umklammert er das 34 Kilogramm schwere, eisenbeschlagene Eichenholzkreuz auf seinen Schultern, mit der linken Hand die Gesichtsmaske, zieht Sehschlitze und Nasenlöcher zurecht. Mit jedem Schritt schleift der Catenacciu, der Gekettete, wie die Einheimischen den Büßer nennen, eine Eisenkette an seinem Fußgelenk über den Boden, vorbei an den Spalier stehenden Pilgern, geleitet von den Herren der religiösen Bruderschaft in weißen Gewändern und roter Schärpe. Manche tragen eine Laterne in der Hand, einer hält ein Kreuz über seinem Kopf. Ihre tiefen Stimmen hallen durch die Kopfsteinpflastergasse, mischen sich mit dem Rasseln der Eisenkette. Dann bricht der Catenacciu zusammen. Ein Raunen geht durch die Menge, ein Mädchen fängt an zu weinen. Im Laternenlicht der Nacht hallt der monotone Bußgesang weiter durch die düstere Gasse.

Vergebung suchen. Seit dem 16. Jahrhundert ist der rote Büßer die Attraktion der Karfreitagsprozession, der ältesten Tradition in dem korsischen Städtchen Sartène. „Wer sich barfuß bei fünf Grad Celsius mit bleiernem Gewicht durch unsere Gassen quält, mit einer Maske auf dem Kopf, unter der man nichts sieht, kaum atmen kann und schwitzt, der will Vergebung“, erklärt Pierre Camille Sampieri. Der Präsident der Confrérie, der Bruderschaft Compagnia del Santissimo Sacramento, der alle religiösen Feste in Sartène organisiert, spricht aus Erfahrung. Karfreitagsprozessionen gibt es in mehreren Orten auf der Insel, den Catenacciu jedoch nur in Sartène. Hier ist der österliche Bußgang am authentischsten, am spektakulärsten.

Sartène, das Bergstädtchen mit 3500 Einwohnern im Südwesten der Insel Korsika, schmiegt sich wie eine überdimensionierte Trutzburg in die grünen Abhänge des Monte Rosso. Gegen Westen schaut es hinab auf
die Eichenwälder um das fruchtbare Tal des Flusses Rizzanèse bis zum Mittelmeer, gegen Osten auf die Gebirgslandschaft Alta Rocca. Im Mittelalter lebten hier reiche Feudalherren. Sie bauten hunderte mehrstöckige Granithäuser kreuz und quer in die verwinkelte Altstadt. Treppen und schattige Gassen führen seitdem bergauf, bergab durch den Ort. Wer hier heute lebt, hat an den Ostertagen aber keinen Blick für die landschaftliche Schönheit. Fensterläden bleiben dann tagsüber verschlossen, auf Balkonen und in den Hauseingängen flackern Grabkerzen. Auf der zentralen Place Porta, wo im Sommer Open-Air-Konzerte stattfinden, spielen Kinder.

Ihre Mütter sitzen in einem der Cafés gegenüber dem Rathaus und der Kirche Santa Maria Assuanta, in der sonst das Kreuz und die Kette des roten Büßers
hängen. In der Rue des Frères Bartoli drapiert ein Ladenbesitzer sein Angebot: frische Myrthe, Thymian und die korsischen Canistrelli-Kekse. Nebenan stellen Restaurantinhaber die ersten Tische und Stühle in die schmale Gasse. Ein verschlafenes Nest.

Das war nicht immer so. Noch im 19. Jahrhundert war Sartène die Hochburg der Vendetta, der Blutrache. Zahlreiche Clans waren miteinander verfeindet, Familien des reichen Altstadtviertels Santa Anna bekämpften Familien des ärmeren Borgo. Selbstjustiz stand an der Tagesordnung. Mag sein, dass manch einer dieser Bluträcher zum Catenacciu wurde.

Siebzig Bewerber. Noch heute ist der offizielle Bußgang am Karfreitag, der nur hier exakt den Kreuzweg Jesus nachstellt, heiß begehrt, die Teilnahme ein Traum vieler Sartenais. Sogar aus Australien und Neuseeland gab es schon Interessenten. „70 Bewerbungen liegen uns vor“, erzählt Monsieur Sampieri und fährt fort: „Davon kommen 20 Männer infrage. Nur sie sind im richtigen Alter, zwischen 40 und 60 Jahren, gläubig, haben genug Lebenserfahrung und Kraft, das schwere Kreuz zu tragen – und etwas Schlimmes verbrochen. Im religiösen Sinn, versteht sich.“

Totschlag, Diebstahl, Vergewaltigung oder doch nur ein besonders frommer Wunsch? Immer wieder heizen Spekulationen um das Motiv des Büßers die Stimmung an. Es sei einmal einer dabei gewesen, der mit dem Bußgang sein behindertes Kind heilen wollte, behaupten die Einheimischen. Monsieur Sampieri weiß es besser: „Vor Jahren hatten wir einen Büßer, der mit 25 Jahren schon zwei Selbstmordversuche hinter sich hatte. Nach dem Bußgang war das vorbei.“ Wie auch heute blieb die Identität des Mannes ein Geheimnis. „Wer der Catenacciu ist, der durch die Anonymität der Maske symbolisch für alle Menschen steht, und wo er herkommt, weiß nur der Priester unseres Franziskanerklosters Saint Côme et Damien. Und er schweigt wie ein Grab. Er wählt den Büßer aus, betreut ihn mehrere Tage vor und nach der Prozession in spiritueller Abgeschiedenheit in einer der Mönchszellen des Konvents. Rund 20 Jahre muss ein Bewerber derzeit auf seine Einladung warten“, ergänzt Bürgermeister Paul Quilichini. Für den gläubigen Sartenais, der hier aufwuchs und neben seinem Amt eine Baufirma und eine Weinproduktion leitet, ist das selbstverständlich.

Wenn sich dann am Karfreitag um 21.30 Uhr die Tore der Kirche Santa Maria Assuanta öffnen, der Catenacciu in der Farbe königlicher Würde gekleidet, gestützt vom Priester und dem korsischen Bischof, auf die Place Porta tritt und seinen zwei Kilometer langen, über zwei Stunden andauernden Rundparcours durch das Gassengewirr startet, wenn er auf dem Wege drei Mal fällt, dann fühlt sich jeder Besucher zurückversetzt in längst vergangene Zeiten. Dabei helfen ein weißer Büßer, der Reine, der dem Catenacciu beim Tragen des Kreuzes hilft und an Simon von Cyrene erinnert, und acht schwarz gekleidete Bösartige, die eine hölzerne Jesusfigur auf einem Leichentuch schultern. 5000 Neugierige schauen vom Straßenrand oder den Balkonen und Fenstern aus zu.

Auch wenn das defizitäre Sartène heute von lokaler Landwirtschaft lebt, kann es Einnahmen aus dem Tourismus gut gebrauchen. Doch mit der Vermarktung des spektakulären Osterbrauchs tut man sich schwer. „Jeder, der möchte, ist natürlich herzlich eingeladen, zur Catenacciu zu kommen. Aber es geht hier nicht um eine Show, sondern um Glaube und Religion. Und das soll auch so bleiben“, sagt Bürgermeister Quilichini bestimmt. Und Pierre Camille Sampieri fügt hinzu: „Ich hoffe, dass unsere Jugend diesen Schatz fortbestehen lässt. Die Zukunft der Catenacciu liegt in ihren Händen.“

Tipps

Anreise
von Wien mit Air France über Nizza nach Ajaccio (ab 350 Euro), weiter per Mietwagen nach Sartène. 01/ 502 222 400 (zum Ortstarif); www.airfrance.com/at


Hotels
San Damianu: modernes Drei-Sterne-Haus hoch über dem Tal mit wunderbarer Sicht auf die Stadt, Außenpool, Terrasse. Preis: drei Nächte/ 351 Euro; sandamianu.fr


Rhomberg Reisen,
Eisengasse 12, 6850 Dornbirn; 05572/224 20-0; Ferienmesse-Stand A0821; www. rhomberg-reisen.com

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