Gute alte Familie? Wie das Bürgertum die Großeltern erfand

Grossmutter und Enkelkind beim Essen
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Erst seit dem 18. Jahrhundert wurden alte Menschen in Bezug auf ihre Enkel definiert: Über uralte Großelternideale, die bis heute wirken, wie die Drei-Generationen-Familie, die es so nie gab.

Ein wichtiges Klischee der Vergangenheits-Verklärung ist die „gute alte“ Großfamilie. Wer sich auf diese beruft, meint gemeinhin nicht die bunt gemischten Hausgemeinschaften früherer Jahrhunderte. „Familie“ meinte ja bis zum 18. Jahrhundert alle möglichen Angehörigen einer Hausgemeinschaft, auch die nicht blutsverwandten; und in diesen von ausgeprägten Machtverhältnissen geprägten Zusammenschlüssen ging es sicher nicht immer idyllisch zu. Nein, ein ganz bestimmtes Bild ist traditionell mit der „Großfamilie“ verbunden und wirkt bis heute nach: jenes eines harmonischen Zusammenlebens von Eltern, Kindern und deren Großeltern.

Tatsächlich wurde dieses Modell in Reinform kaum gelebt. Umso präsenter ist es als idealisiertes Konstrukt, entstanden im aufstrebenden Bürgertum seit dem späten 18. Jahrhundert. Die überschaubare Drei-Generationen-Familie ist erfundene Tradition, wurde aber in bürgerlichen Kreisen so lange als „natürlichste“ und beste Familienform propagiert, dass sie bis heute die Vorstellungen von der „guten alten Familie“ prägt. Das 19. Jahrhundert ist das „Jahrhundert der Großelternschaft“, Texte und Bilder strotzen von idyllischen Großvater- und Großmutter-Inszenierungen. Und in gewisser Weise sind wir in unserem Großelternschafts-Diskurs immer noch ein bisschen so wie Enkel jener idealisierten Alten.

Großmutter, das Anhängsel

Dass sich alte Menschen vorrangig in Bezug auf die Enkel definierten bzw. so definiert wurden, war noch im 18. Jahrhundert etwas ganz Neues. Zuerst wurde „der Großvater“ wichtig, später „die Großmutter“, sie wurde gemäß patriarchalischer Logik oft nur als Anhängsel ihres Mannes gesehen, selbst wenn der schon tot war.

Das zeigt sich auch in Goethes Erinnerungen „Dichtung und Wahrheit“. Die Eltern von Goethes Mutter wohnten unweit vom kleinen Goethe entfernt in Frankfurt, über den Großvater heißt es: „Alles, was ihn umgab, war altertümlich. In seiner getäfelten Stube habe ich niemals irgendeine Neuerung wahrgenommen ... Überhaupt erinnere ich mich keines Zustandes, der so wie dieser das Gefühl unverbrüchlichen Friedens und einer ewigen Dauer gegeben hätte.“ Der Begriff „Großvaterstuhl“ für große Ohrenlehnstühle kam nicht zufällig im späten 18. Jahrhundert auf. Großväter als weise Lehrmeister, aber auch emotionale Bezugspersonen, die oft milder sind als die eigenen Eltern – dieses Stereotyp wurde damals geboren.

Das hatte nicht nur mit sozialen Veränderungen, sondern auch mit der Aufwertung der Kindheit und deren Erziehung in der Aufklärung zu tun. Pädagogen proklamierten, dass sich die Eltern verstärkt um die Aufzucht der Kinder kümmern sollten, auch Großväter kamen dabei ins Spiel: als „weise Greise“, die die Kinder das Leben lehren sollen. In Johann Heinrich Campes „Sittenbüchlein für Kinder aus gesitteten Ständen“ (1777) wird ein Bild als Ideal vorgegeben: Ein alter Mann sitzt unter einem Baum mit einem Gehstock, neben ihm ein jüngerer Mann, rundherum mehrere Buben. Und der Alte spricht: „Nun, Kinder, müsst ihr mir, als einem alten Manne, der viel Erfahrung hat, auf mein Wort glauben.“

Der selbstbewusste Bildungsbürger nahm auch seine Ahnen wichtiger: Bilder der Großeltern spielten eine immer größere symbolische Rolle. Im 19. Jahrhundert wurde auch die bürgerliche Großmutter wichtig: mit Brille und Haube, oft einer Katze, und eindeutig für die Beziehung zum Himmelreich, die Frömmigkeit, zuständig. In Gottfried Kellers Roman „Der grüne Heinrich“ wird die Großmutter in typischer Stilisierung so beschrieben: „voll Güte und Anstand, Duldung und Liebe, von aller Schlacke übler Gewohnheit gereinigt, gleichmäßig und tief“.

„Vor didaktischen und pädagogischen Bedrängnissen flüchteten wir zu den Großeltern“, schrieb schon Goethe. Das innige Gefühl rückte immer mehr in den Mittelpunkt der Beziehung – parallel dazu kam das Bild der (allzu sehr) verwöhnenden Großeltern auf. Victor Hugo schildert 1877 in „Die Kunst, Großvater zu sein“ die zärtliche Liebe zwischen ihm und seinen Enkelkindern. Die „Großväterlichkeit“ wird zur letzten Aufgabe alter Männer, das Enkelkind zu einem „Fürsprecher auf dem Weg ins Paradies“. Großelternschaft bedeutete zunehmend: Verlust an Macht – Gewinn an Liebe.

Auch das gilt eigentlich bis heute.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.02.2015)

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