Günter Grass: Mit der Pranke, nicht mit feinem Strich

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Günter Grass hat gezeigt, wie man Politik und Poesie versöhnen, nein: zusammenzwingen kann. Mit Schreibwut und mit einer ordentlichen Portion Vermessenheit.

Es war eine Enttäuschung. Für alle, die wir seine Romane und Erzählungen lieben, die wir uns so gern in seinen ausufernden Geschichten verloren haben, die zu weiteren Geschichten und die wiederum zu Geschichten führten, und immer so fort, als seien seine Romane das verrückte Leben selbst, waren sie bitter: die politischen Gedichte, mit denen Günter Grass in den letzten Jahren in die Öffentlichkeit trat. Weniger des Inhalts wegen. Auch nicht wegen des seltsamen Gestus, mit dem Grass sich da zum Outlaw stilisierte, der sich kurz vor dem Verstummen, vor dem Totgeschwiegen-Werden noch zu einer Wortmeldung aufraffte. Nein, es war das unerträgliche Fehlen jeder Poesie, es war das Berechenbare und Kalkulierte und Plane seiner Zeilen. Als hätte da einer einen politischen Appell in linksbündigen Flattersatz gegossen. So übel waren die beiden Gedichte, dass der Chef des Sonntags-Feuilletons der „FAZ“ sich einen Spaß erlaubte und behauptete, wir wären alle einem Scherz aufgesessen und „Europas Schande“ sei in Wirklichkeit ein Werk der Satirezeitschrift „Titanic“. Nicht wenige fielen darauf hinein. Vielleicht war da der Wunsch der Vater des Glaubens.

Tränen für ein tränenloses Volk

Dabei war doch Günter Grass derjenige, der uns gezeigt hatte, wie man Politik und Poesie versöhnte, nein, ganz falsch: zusammenzwang! In den Fünfzigerjahren, als die einen noch taten, als sei nichts geschehen, und die anderen vor Schrecken starr nach einer Form suchten, das Grauen angemessen literarisch zu fassen, schrieb er die „Blechtrommel“, jenes wilde Stück, jenen schwer verdaulichen Brocken über Deutschland, der ihn auf einen Schlag berühmt machte – zu Recht. Für diesen Wurf musste er nach Paris reisen, weit weg von den deutschen Debatten der Nachkriegszeit, dort brachte er die 500 Seiten zu Papier. „Schreibwut“ habe ihn angetrieben und „berufsspezifische Vermessenheit“, und damit ist schon viel erklärt. Ohne diese Hybris wäre dieses Buch wohl nie entstanden, von dem jeder eine andere Szene favorisiert: jene mit den Aalen, die sich aus einem faulenden Pferdeschädel schlängeln. Oder jene mit den wunderbar vielen Röcken der Großmutter, unter denen Koljaiczek auf der Flucht vor den Feldgendarmen Unterschlupf findet. Der getrommelte Donauwalzer, mit dem Oskar die Nazis zum Tanzen und die Fanfaren, die Gleichschritt fordern, zum Schweigen bringt. Oder Schmuhs Zwiebelkeller. Dort ordern jene Damen und Herren, die es sich leisten können, für zwölf Mark ein Schneidbrettchen plus Messer plus Küchenzwiebel. Warum? Weil die Zwiebel schaffte, „was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die runde menschliche Träne“.

Das alles war nicht rücksichtsvoll, das war nicht angemessen, das wurde nichts und niemandem „gerecht“, denn die „Blechtrommel“ war ein skandalöses Meisterwerk – und wurde auch als solches erkannt: Eine Jury zeichnete Grass prompt mit dem Bremer Literaturpreis aus, der Senat stellte sich ebenso prompt dagegen, doch es war zu spät. Der „Verfasser übler pornografischer Ferkeleien“ war ein Star.

Kurz nach der „Blechtrommel“ erschienen knapp hintereinander ähnlich erzählfreudige Werke, in denen Grass sich von der eigenen Courage davontragen ließ: „Katz und Maus“ erschien 1961, „Hundejahre“ 1963, beide noch geprägt von den Pariser Erlebnissen und Gesprächen – unter anderem mit Paul Celan. „Danach wurde alles schwieriger. Durch sich selbst gelangweilt, stand der Ruhm im Wege. Freundschaften wurden brüchig. Immer erwartungsträchtige Kritiker bestanden darauf, dass Danzig, einzig Danzig mein Thema sein dürfe“, so Grass später in seiner Vorlesung „Schreiben nach Auschwitz“. In „Der Butt“ gelang ihm noch einmal ein umjubelter und umstrittener Roman, hier ging es um alles, um die gesamte Menschheitsgeschichte, und dazu ums Fressen und den Hunger, um Rezepte und das Feuer und um das Märchen vom Fischer und seiner Frau. „Ilsebill salzte nach“, das war möglicherweise ein noch prägnanterer erster Satz als „Zugegeben: ich bin Insasse einer Heil- und Pflegeanstalt . . .“ in der „Blechtrommel“.

Der Hunger und das Fressen

War Günter Grass' Werk politisch? Unbedingt. War es politisierend? Keineswegs. Das kam erst später. Mag sein, das Engagement hat ihn, den Schreiber mit dem Hang zum Ungeheuerlichen, domestiziert. Mag sein, das Denken in politischen Allianzen und Konzepten, in Zielen und Kompromissen hat ihn gehemmt. Im Vergleich zur „Blechtrommel“ oder zu „Katz und Maus“ nahmen sich spätere Romane verhalten aus. Das Fantastische wurde zur Manier, das Geschriebene bot sich für einfache Interpretationen an: „Das weite Feld“ wurde etwa weithin als Verteidigung der DDR bzw. seiner Bürger gelesen. Dass er auch diesmal für seinen Helden eine ausgefallene Geschichte auf Lager hatte – im Mittelpunkt steht ein Aktenbote, der sich für Theodor Fontane hält – nutzte ihm nichts: Das Buch fiel durch. Marcel Reich-Ranicki zerriss es auf der Titelseite des „Spiegel“. Ein unnötiger Bruch. So schlecht war der Roman nicht, sogar besser als viele in diesem Jahr gepriesene. Aber eben nicht gut genug für Günter Grass.

Es muss für ihn eine große Genugtuung gewesen sein, dass er 1999, also vier Jahre später, den Nobelpreis erhielt. „Oft reicht der Nachweis, dass die Wahrheit nur im Plural existiert, um einen solch erzählerischen Befund als Gefahr zu werten“, meinte er in seiner Rede über die Kraft der Literatur. Er schrieb bis zuletzt. „Vonne Endlichkeit“ heißt sein jüngstes Werk – schon wieder hochgegriffen. Er hat es letzte Woche abgeschlossen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2015)

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