Der Ausgang der britischen Parlamentswahl bringt das Thema Unabhängigkeit zurück auf die Agenda. Die Zentrifugalkräfte nehmen aber auch außerhalb Schottlands zu.
London. Acht Monate, nachdem die Schotten in einer Volksabstimmung gegen die Unabhängigkeit gestimmten haben, bringt der Ausgang der britischen Parlamentswahl das Thema zurück auf die Tagesordnung. Die Scottish National Party (SNP) feierte mit voraussichtlich 56 von 59 Sitzen einen beispiellosen Erdrutschsieg. „Der schottische Löwe hat gebrüllt“, sagte der ehemalige SNP-Führer und First Minister, Alex Salmond, immer noch einer der Drahtzieher der Partei, in der Wahlnacht. Es sei „unvorstellbar“, dass eine „derartige Demonstration der Einigkeit der schottischen Wähler ungehört“ bleibe.
Im Parlamentswahlkampf waren die SNP und ihre neue Führerin, Nicola Sturgeon, peinlich darauf bedacht, nicht über die Unabhängigkeit zu reden. „Wir sind Demokraten und akzeptieren das Ergebnis der Volksabstimmung“, sagte Sturgeon. Bei der Unterhauswahl gehe es darum, dass „Schottlands Stimme in London gehört“ werde.
Das war natürlich nur die halbe Wahrheit, denn dass die Nationalisten ihr Ziel keineswegs aufgegeben haben, ist kein Geheimnis: „Der Traum wird niemals sterben“, betitelte Salmond sein jüngstes Buch, und sein Mitstreiter Angus Robertson erklärte kürzlich der „Presse“: „Wir werden nicht ruhen, bis Schottland ein normales Land ist, das sich selbst regiert.“
Labour-Trümmerfelder
Den Konservativen lieferte dies willkommene Wahlkampfmunition – vor allem gegen die Labour Party. Eine Minderheitsregierung am Gängelband der Nationalisten würde „Schock und Chaos“ über das Vereinigten Königreich bringen und eine Verfassungskrise auslösen, warnte etwa Innenministerin Theresa May. Indem sie die SNP hochredeten, schadeten die Konservativen erfolgreich Labour: Die Partei wurde in Schottland nun praktisch ausgelöscht, von Hochburgen wie Glasgow bis zum Wahlkreis von Ex-Premier Gordon Brown blieben nur Trümmerfelder.
Doch was in der Wahlkampagne erfolgreich war, dürfte sich für Cameron nun bald als Bumerang erweisen. Schon in seiner ersten Stellungnahme versuchte er sich als „Premierminister der Union“ darzustellen: „Eine Nation, ein vereinigtes Königreich – das ist es, wie ich regieren möchte, wenn ich meine Arbeit als Regierungschef fortsetzen darf.“
Für diese Einheit, zu der er alle aufrief, muss er freilich Unmögliches vereinbaren: Auf der einen Seite lehnt Schottland die von den Londoner Parteien nach dem Referendum im Vorjahr angebotenen Ausweitungen der Autonomie als unzureichend ab. So will die SNP etwa völlige Steuerhoheit.
Und auch andere Landesteile kommen mehr und mehr auf den Geschmack: Die walisische Plaid Cymru konnte ihre drei Mandate halten, die nordirischen Parteien hielten sich schon vor der Wahl alle Optionen offen. Die hauchdünne Mehrheit Camerons werden sie im Zweifelsfall zu nutzen wissen – und in Zuwendungen aus London ummünzen. „Wir können mit beiden“, sagte Nordirlands Regierungschef Peter Robinson.
Sonderbehandlung Schottlands
Zum anderen wollen auf englischer Seite immer mehr Bürger die Sonderbehandlung Schottlands nicht länger akzeptieren. So dürfen schottische Abgeordnete in London über Gesetze für England abstimmen, während in Edinburgh nur die Schotten das Sagen haben. Bei den Sozialausgaben wendet der britische Staat für die Schotten 1200 Pfund mehr im Jahr auf als für alle anderen Bürger.
Cameron ist beiden Wählern im Wort. Den Schotten versprach er mehr Rechte, den Engländern „englische Stimmen für englische Gesetze“. Das ist ein wohl unmöglicher Spagat, den die Nationalisten in den nächsten fünf Jahren für ihn schmerzhaft machen werden. Dafür hat die SNP nach dem „politischen Tsunami“ jetzt Rückenwind. Die Nationalisten transformierten die Niederlage im Referendum in politische Schubkraft, indem sie sich zur wahren Stimme der Schotten machten, die ihren Finger am Puls der Basis hat und sich als Alternative zu den „Systemparteien“ präsentiert. Das zeigte sich nun darin, dass die SNP nicht nur Labour vernichtete, sondern auch jede andere Konkurrenz wie die Liberaldemokraten.
Den Konservativen konnte das recht sein, denn sie hatten in Schottland mit einer – herausragenden – Abgeordneten ohnehin so gut wie nichts zu verlieren. Die Zeche, die nun ansteht, wird aber gewaltig sein. 2016 wählt Schottland. Es wird sich zeigen, ob dann die Unabhängigkeit im Wahlprogramm stehen wird.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.05.2015)