Es ist ein konservatives Land

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Was der überraschend deutliche Sieg der britischen Tories bei den Parlamentswahlen über das Land verrät – und wie Premierminister David Cameron die nächsten fünf Jahre regieren wird.

Zum Jahreswechsel wurde der frühere britische Premierminister Tony Blair nach seiner Einschätzung für die kommenden Parlamentswahlen gefragt: „Ich sehe eine Situation, in der eine traditionelle Linkspartei gegen eine traditionelle Rechtspartei antritt – mit dem traditionellen Ergebnis.“ Blair, der letzte Labour-Politiker, der die Partei 1997 zu einem Wahlsieg führen konnte, sollte den Nagel auf den Kopf treffen. Die Parlamentswahl am Donnerstag endete mit einem Triumph des konservativen Amtsinhabers David Cameron. „We've got five years, what a surprise“, wie David Bowie einst sang.

Während der Premier gestern bereits hurtig daranging, die Posten in der ersten Tory-Alleinregierung seit 1992 zu vergeben, stehen die Oppositionsparteien am Anfang eines Erneuerungsprozesses, der lang und schwierig zu werden verspricht. Cameron signalisierte mit seinen ersten Ernennungen Kontinuität: Schatzkanzler George Osborne, Außenminister Philip Hammond, Innenministerin Theresa May und Verteidigungsminister Michael Fallon bleiben alle im Amt. Mit der Verleihung des Ehrentitels „First Secretary of State“ an Osborne bedankte sich Cameron nicht nur für einen letztlich erfolgreichen Wahlkampf, dessen Mastermind der Schatzkanzler gewesen war, sondern designierte ihn auch praktisch zu seinem Nachfolger.

Unerwarteter Triumph. Dass die Tories triumphierten, kam für alle überraschend, auch für die eigene Partei. Kampagnenleiter Lynton Crosby sagte wenige Tage vor der Wahlden Gewinn von „maximal 306 Sitzen“ voraus. Das hätte eine neue Koalition oder Minderheitsregierung bedeutet. Geworden sind es 331, eine absolute Mehrheit von fünf Mandaten. Das ist wenig, aber mehr, als die Partei in ihren kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hat.

Die Konservativen profitierten davon, dass Labour von der Scottish National Party (SNP) in ihrer ehemaligen Hochburg vernichtet wurde. Es war immer ein Axiom der britischen Politik, dass Labour ohne Schottland keine Mehrheit im Vereinigten Königreich hat. Das wurde am Donnerstag bewiesen. Doch Labour blieb auch in England – mit Ausnahme von London – häufig hinter den Erwartungen zurück. In den West Midlands und im Süden konnten angepeilte Mandate nicht gewonnen werden, in Yorkshire, einem Labour-Kernland, verlor mit Ed Balls sogar einer der führenden Vertreter der Partei seinen Sitz.

Am Ende des Wahltags stand Labour mit 99 Abgeordneten weniger da als die Konservativen, und nach dem schlechtesten Ergebnis der Partei seit 1987 nahm Parteiführer Ed Miliband den Hut. „Ich trage die volle und totale Verantwortung“, sagte er unter dem Applaus seiner Mitstreiter. Miliband hatte aus der Finanzkrise 2008, die Großbritannien besonders hart getroffen hat, den Schluss gezogen, dass sich die politischen Gewichte nach links verschoben hatten. In seiner Analyse schuf das Versagen des freien Marktes die Notwendigkeit für die Rückkehr des Staates: Preiskontrollen, mehr Sozialausgaben und höhere Steuern für die Reichen. Die Krise des Kapitalismus begriff er als Chance für die Linke.

Miliband hielt an seiner These der „Verschiebung der Mitte nach links“ auch fest, als die Evidenz dafür ausblieb: In Deutschland etwa hat die konservative Angela Merkel die Sozialdemokraten zu einer Mehrheitsbeschaffungspartei reduziert. Von Australien bis Japan regiert die Rechte. Dort, wo die Linke an der Macht ist, wie in Frankreich, hat sie versagt. Unbestreitbar gibt es eine Verschiebung der Wählerströme, aber sie erfolgt nicht zu sozialdemokratischen Parteien wie Labour, sondern in Richtung populistischer Randparteien wie Syriza, Podemos oder Beppo Grillos M5S.


Gegen die EU. Die britische Variante ist die rechte United Kingdom Independence Party (UKIP) – und das ist kein Zufall. Die Partei ist gegen die EU-Mitgliedschaft und will eine starke Einschränkung und strenge Kontrolle der Einwanderung. Dahinter steckt die Sehnsucht nach einem Großbritannien, das es längst nicht mehr gibt oder wohl nie gegeben hat: einem Land klarer Mehrheiten, eindeutiger Herrschaftsverhältnisse, traditioneller Geschlechterrollen, einer homogenen Gesellschaft. In ihrer gesamten Anmutung ist die Partei rückwärts gewandt. Sie hat bei der Wahl am Donnerstag zwölf Prozent der Stimmen gewonnen, aber nur ein Mandat. In vielen Wahlkreisen wurde UKIP aber zum Zünglein an der Waage und kostete etwa Balls sein Mandat.

Trotz der offensichtlichen Ungerechtigkeiten, die das Mehrheitswahlrecht mit sich bringt, halten die Briten daran fest. Mehr noch: Als sie im Mai 2011 in einer Volksabstimmung die Chance zur Einführung eines neuen Systems hatten, lehnten überwältigende 67 Prozent eine Reform ab. Ähnlich reformunwillig ist das Land bei anderen Themen: Das staatliche Gesundheitswesen (NHS) stellt mit 125 Milliarden Pfund nach den Pensionsausgaben den größten Budgetposten dar und hat längst seine Kapazitätsgrenzen und Finanzierbarkeit überschritten. Jeder weiß das, dennoch wagt kein Politiker eine Änderung.

Amüsanter Anachronismus. Auch bei der Verfassung gäbe es genug zu tun, nicht nur wegen Schottland. Niemand bestreitet ernsthaft, dass das Oberhaus des Parlaments (House of Lords) bestenfalls ein amüsanter Anachronismus ist. Wenn die Lords, wie im Dezember geschehen, eine Petition verabschieden, in der sie sich dagegen verwahren, denselben Champagner bei Empfängen gereicht zu bekommen wie die gewählten Unterhausabgeordneten, „weil die Qualität nicht so hoch ist“, schmunzelt das Land. An einer Reform der Kammer scheiterte sogar Blair.

Mindestens ebenso hartnäckigen Bestand hat die Klassengesellschaft: Von 55 Premierministern waren nicht weniger als 41 Absolventen der Eliteuniversitäten Oxford oder Cambridge, der innere Kreis um Premier Cameron wird von Schulkollegen aus dem Nobelinternat Eton kontrolliert – und nicht viel anders sieht es bei Labour aus, wo zuletzt die Parteichefs Blair und Miliband ebenfalls Oxford-Absolventen waren. In einem Land, in dem das (realpolitisch machtlose) Königshaus die höchsten Zustimmungsraten aller Institutionen hat, muss man sich auch um den Adel keine Sorgen machen: Der Duke of Westminister hat als größter Immobilienbesitzer des Landes nach Schätzungen der „Sunday Times“ ein Vermögen von 8,5 Milliarden Pfund (11,7 Milliarden Euro).

Das durchschnittliche Jahreseinkommen eines Briten beträgt hingegen 26.000 Pfund. Großbritannien ist heute das Land mit der größten Einkommensspanne unter allen führenden Industrienationen und das einzige Land der G7, in dem die Differenz seit Beginn des Jahrhunderts größer geworden ist.


Schottische Leidenschaft. Revolutionäre Gedanken sind Großbritannien schließlich fremd, und nicht zufällig ist einer der am meisten verehrten Denker der konservative (irische) Kritiker der Französischen Revolution, Edmund Burke, der sagte (wie später von George Santayana paraphrasiert): „Wer die Geschichte nicht kennt, ist verdammt, sie zu wiederholen.“ Genau davon träumen in diesem Land aber nicht nur UKIP-Wähler: In Schottland begeht man das Gedenken von Schlachten, die 800 Jahre zurückliegen mit einer Leidenschaft, als glühten die Säbel noch. Auch die SNP ist im Bewahren des Schottentums eine tief konservative Partei.

Wer einmal eine ehemalige Bergarbeiterstadt in Yorkshire besucht hat, wird nicht lang brauchen, um in eine Diskussion über den Streik von 1984/1885 verwickelt zu werden. Damals brach Margaret Thatcher den Gewerkschaften das Rückgrat, und 30 Jahre später bestimmen die damaligen Ereignisse immer noch das Wahlverhalten: „Niemals vergessen, niemals vergeben“, wie Streikführer Arthur Scargill sagte.

Wie die Arbeitswelt hat sich auch die Gesellschaft geändert. 2016 werden erstmals mehr außereheliche Kinder als eheliche geboren werden. Die Homosexuellenehe ist legalisiert und Alltag. Millionen Einwanderer haben das Land verändert. Während der Wohnraum knapp ist, haben die Schulen mit dem höchsten Ausländeranteil die besten Ergebnisse.

Es ist nicht so, dass die Konservativen unter Cameron nicht zunächst auch die Absicht hatten, die gesellschaftlichen Herausforderungen des Landes anzusprechen. „Big Society“ hieß Camerons großes Projekt, in dem er die Bürger mobilisieren und das Fürsorgeband des Staates lockern wollte. Es scheiterte nicht nur an einem Mangel an Erklärung, sondern auch an der Apathie der Bürger. „Nationalismus und Konsumismus sind die einzigen zwei Dinge, die unsere Gesellschaft momentan bewegen“, glaubt der Historiker Simon Schama.

Vor diesem Hintergrund erwies sich die konservative Partei bei der Wahl für die Mehrheit als die natürliche Rückfalloption. Das hat weniger mit dem konkreten Politikangebot Camerons zu tun als mit der Sehnsucht eines tief in Traditionen verwobenen Landes nach Gewissheiten, die es nicht gibt, aber die man in einer mystischen Vergangenheit sucht. Konservativ heißt bewahren. In einer Zeit globaler Verwerfungen sucht die bedrängte Mitte, solang es sie noch gibt, Sicherheit und nicht Revolte. Miliband wollte das Land ändern, Cameron will es regieren. Deshalb hat er gewonnen.

Fakten

David Cameronsignalisiert nach seinem Wahlsieg Kontinuität in der ersten Tory-Alleinregierung seit 1992: Schatzkanzler George Osborne, Außenminister Philip Hammond, Innenministerin Theresa May und Verteidigungsminister Michael Fallon bleiben alle im Amt.

Mit der Verleihung des Ehrentitels „First Secretary of State“ an Osborne machte Cameron den Mastermind des Wahlkampfes praktisch zu seinem Nachfolger.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2015)

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