Der Stadtplanungsexperte Reinhard Seiß sieht den öffentlichen Raum durch parkende Autos gefährdet und hofft auf einen verstärkten Ausbau von Straßenbahn und Bus.
Die Presse: Im Vergleich zu Ihrer scharfen Kritik an der Wiener Stadtplanung noch vor ein paar Jahren scheinen Sie jetzt etwas milder geworden zu sein. Stimmt dieser Eindruck?
Reinhard Seiß: Die wirklichen Schandtaten der Wiener Planungspolitik sind Mitte der Neunziger- bis Mitte der 2000er-Jahre festzumachen. Da passierte in manchen Fällen menschenverachtender Städtebau. Heute gibt es die wirklich schlimmen Spitzen nicht mehr. Empörend waren damals aber auch viele Gefälligkeits- oder Begünstigungsplanungen und -widmungen. Und da sind wir nach wie vor nicht frei von Projekten, denen der Geruch anhaftet, dass da manche etwas dürfen, was andere nicht dürfen.
Das heißt, die Stadtplanung in Wien hat sich geändert.
Die Goldgräberstimmung ist vorbei, die Stadtplanung ist seit Rot-Grün etwas sachlicher geworden, auch transparenter und pluralistischer. Und die Erkenntnis, dass die absurdesten Projekte nicht das Gelbe vom Ei sind, hat mehr Platz gegriffen. Vielleicht ist auch die Beamtenschaft etwas selbstbewusster geworden in der Diskussion innerhalb des Rathauses. Aber grundsätzliche Änderungen, die großen Weichenstellungen, die in Richtung einer anderen Stadtentwicklung gehen sollten, sehe ich nach wie vor nicht.
Was würden Sie verbessern?
Da gibt es mehrere Beispiele, etwa den Einzelhandel. Es ist nach wie vor so, dass jedes große Projekt auch eine Einzelhandelsnutzung bekommt, ob man sie braucht oder nicht. Dabei hat sich nichts daran geändert, dass Wien überversorgt ist. Jede zusätzliche große Einzelhandelsfläche kannibalisiert bestehende Flächen und wird weiteren Leerstand produzieren. Aber es gibt keine politische Bereitschaft, steuernd und regulierend einzugreifen. Genauso wenig ist man bereit, die Ausweitung des veritablen Leerstands an Büroflächen einzudämmen.
Hilft da mehr Durchmischung?
Es ist der einzige Weg zu einer urbanen Stadtstruktur. Aber es findet noch sehr schaumgebremst statt. In Aspern bemüht man sich, aber prinzipiell entstehen auch dort auf der einen Seite nur Wohnblöcke und auf der anderen reine Gewerbebauten. Wo bleibt die Durchmischung etwa von Wohnungen und Büros? Wien wird nach wie vor geprägt durch das Nebeneinander all dieser Funktionen. Warum dürfen Supermärkte in Gewerbegebieten entstehen – abseits der Kunden?
Reden wir über die Zukunft. Welche Parameter für eine moderne Planungspolitik sind wichtig?
Eine lebenswerte Stadt hängt zusammen mit einem qualitätvollen Freiraumangebot und einer intelligenten Lösung der Mobilität. Das sind zwei Grundparameter. Aber wir haben unseren Straßenraum durch parkende Autos verstellt: Das ist verschenkter Platz. Autos gehören unter die Erde – oder am besten ganz raus aus der Stadt.
Dazu muss man allerdings auch mehr Alternativen zum Auto anbieten.
Den Autoverkehr durch Lenkungsmaßnahmen und eine bis dato fehlende Kostenwahrheit auf ein sinnvolles Maß zurückzuführen, würde automatisch bedeuten, dass wir mehr Möglichkeiten für andere Mobilitätsformen haben. Schauen Sie sich die neue Mariahilfer Straße an – das ist ein moderner, lebenswerter und urbaner Verkehrs- und Aufenthaltsraum geworden.
Wie wichtig ist der Ausbau der Öffis, vor allem der U-Bahn?
Prinzipiell ist jeder Euro, der in den öffentlichen Verkehr fließt, besser, als wenn man ihn in eine Lobau-Autobahn steckt. Die jüngsten Erweiterungen des U-Bahn-Netzes sind wegen der fehlenden Notwendigkeit und der gleichzeitig hohen Kosten aber auch infrage zu stellen, weil damit Geld für den flächendeckenden Ausbau der niederrangigen Verkehrsmittel, Straßenbahn und Bus, fehlt. Ich halte es für überzogen, eine U-Bahn nach Oberlaa zu bauen oder im Zuge der U2/U5-Planungen Viertel zu erschließen, die ohnehin bereits durch U3 und U4 abgedeckt sind. Wenn man wirklich eine zukunftstaugliche, ökologische Stadt haben möchte, sollte man mit diesen Mitteln sicherstellen, dass überall im dicht bebauten Gebiet zuverlässig alle fünf Minuten eine Straßenbahn oder ein Bus fährt, selbst am Wochenende und auch um 22 Uhr.
Vieles von dem, was Sie vorschlagen, kann man aber nur in den inneren Bezirken umsetzen.
Natürlich, am Stadtrand werden die fünf Minuten nicht durchzuhalten sein. Aber gerade dort muss der öffentliche Verkehr verbessert werden. Ansonsten bleibt es ein Lippenbekenntnis, das Auto ersetzbar machen zu wollen.
Urban Gardening wird immer populärer. Soll die Stadtplanung diesen Trend unterstützen?
Wenn es die Leute glücklich und die Stadt grüner macht, ist es eine gute Sache – die sich im Übrigen nicht auf Restflächen im Straßenraum oder ein paar Hochbeete im Innenhof zu beschränken bräuchte. Wir bauen fast nur noch Gebäude mit Flachdächern. Das wären riesige Freiraumressourcen, die allerdings vor allem für technische Anlagen oder Penthäuser verwendet werden. Wenn der innerstädtische Grünraum auf dem Boden schon so knapp ist, sollten wir diese Dachzonen viel intensiver nutzen.
ZUR PERSON
Reinhard Seiß (44) ist Stadtplaner, Filmemacher und Publizist. Der gebürtige Oberösterreicher studierte Raumplanung und Raumordnung an der TU Wien. In seinem Buch „Wer baut Wien?“ übt er heftige Kritik an der Wiener Stadtplanung. Zuletzt hat er ein Buch über den Architekten Harry Glück (Alt-Erlaa) veröffentlicht. [ Clemens Fabry ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.08.2015)