Flucht aus der nordkoreanischen Hölle

Endlich frei: Park Jeong Ok (r.) und ihre Tochter Hanbyeol Lee am Wiener Schillerplatz.
Endlich frei: Park Jeong Ok (r.) und ihre Tochter Hanbyeol Lee am Wiener Schillerplatz.(c) Stanislav Jenis
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Die Nordkoreanerin Park Jeong Ok schildert, wie sie Lager, Folter, Zwangsarbeit und Hunger im isolierten kommunistischen Unterdrückungsstaat überlebt hat.

Park Jeong Ok rückt ihre große Sonnenbrille zurecht, atmet tief ein. Dann zeigt die 61-jährige Nordkoreanerin auf eine Zeichnung. Dort sieht man eine nackte Frau, die sich am Boden krümmt. Das Gesicht ist vor Schmerzen verzerrt, die Hände hält sie am Bauch, aus dem Bauch strömt Blut. „Diese Frau war mit mir im Gefängnis. Sie war schwanger. Die Wächter haben sie getreten, geschlagen, getreten. Bis sie ihr Baby verloren hat“, sagt Park. Das Bild hat Park gezeichnet.

Der sonst so gefassten Park bricht die Stimme. Sie schluchzt auf, ein kurzer, dumpfer Laut. Sehr schnell fasst sie sich wieder. Langsam spricht sie weiter. „Diese Frau war nach China geflohen, genauso wie ich. Dort wurde sie festgenommen und nach Nordkorea zurückgeschickt. Sie erwartete ein Baby von einem chinesischen Mann“, erzählt sie. „Aber das nordkoreanische Regime will keine Mischlinge, Babys von chinesischen Männern werden im Gefängnis getötet. Manche vor, andere nach der Geburt. In unserem Gefängnis haben Wächter Säuglinge einfach zertreten.“

Flucht gilt in Nordkorea als Hochverrat. Wer es wagt, das abgeschottete, kommunistische Land zu verlassen und dabei erwischt wird, kommt erst in ein Sicherheitsgefängnis, dann ins gefürchtete Lager. Mindestens 150.000 der 24,9 Millionen Einwohner sollen laut Menschenrechtsorganisationen in diesen Gulags interniert sein. Auch Kinder. Trotzdem hat Park gemeinsam mit Tochter Hanbyeol Lee den gefährlichen Schritt gewagt – gleich dreimal. Bis ihr 2007 die Flucht gelang.


Leichen auf der Straße. In klaren, detaillierten Zeichnungen hat die Frau die schlimmsten Momente ihres Lebens in Nordkorea festgehalten: Hunger, Folter, Mord, Demütigung, Gefangenschaft. Nicht nur will sie damit der Welt zeigen, was das Kim-Regime mit seinen Bürgern macht. Diese Zeichnungen haben ihr auch geholfen, mit den Gespenstern aus der Vergangenheit fertig zu werden.

So erklärt Park anhand eines weiteren ihrer Bilder, wieso sie 1999 erstmals aus ihrer Heimatstadt Hamhung geflohen ist. Zu sehen sind drei Kinder, mit tief eingefallenen Wangen, schlotternden Kleidungsstücken. Die Kleinen stehen hinter einer Leiche, die von Polizisten weggetragen wird. „Die Menschen sind verhungert, einfach so. Die Leichen lagen auf der Straße. Diese Kinder hatten ihre Eltern verloren. Sie schliefen neben den Toten auf der Straße.“

Mitte der 1990er-Jahre war nach einer Dürre die staatliche Versorgung in Kim Jong-ils „sozialistischem Paradies“ zusammengebrochen. Das nordkoreanische Autarkie-Experiment war brutal gescheitert: Hunderttausende Menschen verhungerten damals. Viele mussten sich von Baumrinden, Gras und Wurzeln ernähren. Aus dieser Zeit hat die tyrannische Kim-Dynastie offenbar keine Lehren gezogen: Heute, unter Kim Jong-ils Sohn Kim Jong-un, befürchtet Nordkorea erneut eine Hungersnot: Von „der schlimmsten Dürre seit 100 Jahren“, berichtete vor wenigen Monaten Nordkoreas staatliche Nachrichtenagentur. Ein Drittel der Reisfelder sei ausgetrocknet. Die sehr zaghaften Reformen in Richtung Marktöffnung (Bauern dürfen einen Teil ihrer Ernte behalten und verkaufen) dürften wenig gebracht haben: „Wir hören, dass es den Menschen so schlecht geht wie seit Jahren nicht mehr“, sagt Parks Tochter. Die 32-Jährige betreut heute in Seoul Nordkorea-Flüchtlinge. Auch die UNO warnte unlängst, dass 70 Prozent der Nordkoreaner nicht genug zu essen hätten. Ein Drittel der Kinder unter fünf Jahren litten unter Mangelernährung. Das Regime stiehlt sich aus der Verantwortung. Genauso wie damals: „Es wurde kein Essen mehr verteilt“, erinnert sich Park an die 1990er. Die Ingenieurin verkaufte damals Kleider auf dem Schwarzmarkt, um ihre Tochter und ihren kranken Mann am Leben zu erhalten: „Ich konnte pro Tag nur eine einzige Portion Reis kaufen.“ Park plagten auch die Sorgen um den Sohn, der zu diesem Zeitpunkt seinen Militärdienst absolvieren musste. Monatelang hatte sie nichts von ihm gehört. Bis er heimkam. Die Mutter erkannte ihn nicht: „Er bestand aus Haut und Knochen.“ Die Wut auf das Regime, „das uns nicht einmal ernähren konnte“, wuchs täglich, erzählt Park. Doch beschweren konnte man sich nur, wenn der Staat nicht mithörte. Aber: „Das Regime hatte überall seine Spitzel.“ Menschen, die nur ein Wort der Kritik über die Kim-Diktatur äußerten, verschwanden spurlos. Das ist auch heute noch so.

Parks Mann starb an Unterernährung. Die junge Hanbyeol wurde immer dünner, schwächer. „Mir wurde klar: Hier sterben wir“, erinnert sich Park. Sie beschloss, die lebensgefährliche Flucht zu wagen: Ohne Gepäck verließ sie gemeinsam mit der 16-jährigen Tochter die Stadt. Ziel war der Fluss Tumen, der etwa ein Drittel der koreanisch-chinesischen Grenze bildet. Über den Tumen fand während der Hungersnot der 1990er-Jahre ein regelrechter Exodus in das vergleichsweise wohlhabende China statt. Die Kontrollen waren lasch, die Grenzbeamten ließen sich leicht bestechen. Viele Chinesen leisteten den Grenzgängern Hilfe. Den Fluss überquerten die beiden nachts. Nach China schwammen Mutter und Tochter. Von der Überquerung des überfluteten Tumen träumt Park heute noch: „Es war gefährlich, daher musste ich als Erste schwimmen. Hanbyeol war hinter mir. Ich sah sie nicht, hörte sie nicht.“ Doch sie schafften es. In der chinesischen Stadt Yanji, wenige Kilometer hinter der Grenze, warteten Verwandte auf sie. Wie alle Flüchtlinge aus Nordkorea waren Park und Hanbyeol in Yanji Illegale. Drei Jahre ging alles gut, „aber wir fürchteten ständig, erwischt zu werden“, sagt Park. Sie arbeitete hart, als Flüchtlingshelferin und auf dem Markt. Mit dem Geld kaufte sie der Tochter einen gefälschten südkoreanischen Reisepass: Und so erreichte die damals 19-Jährige 2002 ihren Großvater in Seoul. Für zwei Pässe hätte das Geld nicht gereicht.


Nackt im Käfig. Lee entkam gerade rechtzeitig: Ihre Mutter wurde wenig später verhaftet und nach Nordkorea abgeschoben. Für Park begann eine lange Zeit des Leidens: Erst kam sie in die Haftanstalt Namyang, ein Gefängnis für Flüchtlinge. Wie es dort aussah, dokumentiert ihre Zeichnung: Ausgemergelte, kahl geschorene Menschen hocken eng aneinander gedrängt in einem Raum. „Wir bekamen kaum zu essen und zu trinken. Wir konnten uns nicht bewegen, mussten in derselben Position verharren. Es war verboten zu schlafen. Kameras beobachteten uns: Nickte man ein, wurde man geschlagen.“

Im Hintergrund des Bildes sind zwei Fässer zu sehen – die Toilette und der Wasserbehälter. Daneben ist eine kleine Tür abgebildet, die führte zum Verhörraum. Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich diese Tür auch für Park. Der Verhörer wollte wissen, was sie in China gemacht habe. Ob sie gegen Nordkorea konspiriert habe. „Nein“, habe sie wiederholt. Der Polizist sei ausgerastet. Als Strafe für „mangelnde Kooperation“ wurde die Frau in eine kleine Zelle gesperrt, einen Käfig. Park zeigt wieder auf eine Zeichnung: „Diese nackte Frau bin ich. Im Käfig war es so heiß, dass ich keine Wahl hatte: Ich musste mir die Kleider vom Leibe reißen“: eine weitere bewusste Maßnahme der totalen Demütigung. Zwei Monate harrte Park in der Hölle von Namyang aus. Dann wurde sie in ein Arbeitslager verschleppt. Dort musste sie Steine wälzen, auf dem Feld arbeiten. Wer wegen Hunger, Erschöpfung oder Krankheit zusammenbrach, wer Widerstand leistete, wurde geschlagen. „Täglich starben Gefangene“, sagt Park. In einem Raum wurden die Toten übereinander gestapelt. War der Raum voll, mussten die Häftlinge die Leichen wegtragen. Park erinnert sich genau an den Sommertag, als sie an der Reihe war. Heute noch riecht sie die verwesenden Leichen, spürt die Hitze, die Würmer, die Insekten am eigenen Leib.

Wer Gefängnis und Zwangsarbeit überlebte – die wenigsten – durfte heim. Park kehrte nach einem Jahr Haft nach Hamhung zurück, zu ihrem Sohn, dessen Frau und deren Töchtern. Wegen Parks Flucht stand die Familie unter Überwachung: „Polizisten suchten uns auf. Sie wollten Alkohol, Zigaretten. Sie drohten, mich wieder einzusperren.“

2004 flüchtete Park erneut. Sie schaffte es über den Fluss. Diesmal wurde sie bereits nach wenigen Wochen abgeschoben. Der Albtraum begann von vorn – Gefängnis, Verhör, Folter, Zwangsarbeit. Aber die hartnäckige Park überlebte auch diesmal. Sie kehrte zurück nach Hamhung. Den Freiheitstraum gab sie nicht auf. Diesmal half ihr die Tochter: Sie ließ der Mutter Geld zukommen, um die Grenzpolizisten am Tumen zu bestechen. Sie knüpfte Kontakte zum UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR, das Park im Jahr 2007 half, von China ins freie Südkorea zu kommen.


Menschenversuche. Heute sei die Flucht aus der kommunistischen Hölle noch schwieriger als zu Parks Zeiten, weiß Hanbyeol von Flüchtlingen. Diktator Kim Jong-un habe die Grenzkontrollen massiv verschärft. Beamten, die sich bestechen lassen, drohen schwere Strafen wegen „mangelnder Loyalität“. Auch China habe – aus Angst vor Flüchtlingswellen – die Überwachung der Grenze intensiviert. Kim setzt zudem auf Abschreckung: Wer flieht, der muss heute mit der allerschlimmsten Form der Haft rechnen: dem Internierungslager für politische Häftlinge. Ein 2014 veröffentlichter UN-Bericht hat den systematischen Massenmord in diesen Lagern dokumentiert. Die Grausamkeit erinnert an Nazi-KZ und an Stalins Gulags: Hinrichtung, Folter, sexuelle Gewalt gehörten zum Alltag. Berichtet wird von medizinischen, biologischen und chemischen Experimente an Menschen. Unter den Häftlingen seien viele Kinder.

Grund für die noch härteren Strafen für Flüchtlinge sei, „dass immer mehr Nordkoreaner das Land verlassen wollen“, meint Hanbyeol. Südkorea sei heute näher denn je: Viele Nordkoreaner würden trotz Verbots über illegale DVDs oder USB-Sticks südkoreanische TV-Serien schauen. Der verhasste Süden sei Sinnbild der Freiheit geworden.

Park jedenfalls hat Nordkorea noch lang nicht hinter sich gelassen. Die Wunden aus der Vergangenheit schmerzen weiterhin. Am rechten Ohr ist sie taub, eine Folge der Schläge ihrer Folterer. In der Nacht wecken sie Albträume. Aber vor allem denkt sie ständig an den Sohn, von dem sie keine Nachricht hat. Auch er hat versucht zu fliehen. Sie bangt um ihre Schwiegertochter, ihre Enkelinnen. Trotzdem zwingt sich Park, nach vorn zu blicken, Zukunftspläne zu schmieden: „Ich will meine gesamte Familie in Südkorea umarmen. Ich hoffe, dass meine Enkelinnen dort erwachsen werden. Ich werde alles tun, damit das passiert.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.08.2015)

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