Ankara warnt EU vor „politischer Bestechung“

Themenbild
Themenbild(c) AFP (ADEM ALTAN)
  • Drucken

Die von Brüssel verkündete Vereinbarung trifft in Ankara auf massive Kritik. Die Krise werde im Gegenzug für Milliardenzahlungen auf den Rücken der Türkei abgeladen, so der Tenor. Das Vorhaben gehe zudem an der Realität vorbei, da die Grenzabschottung Richtung EU schlicht nicht möglich sei.

Istanbul. Die Zuversicht der EU, mit Ankara eine belastbare Grundsatzvereinbarung in der Flüchtlingsfrage ausgehandelt zu haben, dürfte sich als verfrüht erweisen. Regierungsvertreter und Experten in der Türkei äußerten sich am gestrigen Freitag ablehnend zu der Abmachung vom Vortag, die von Außenminister Feridun Sinirlioğlu lediglich als Entwurf gewertet wird, dem noch weitere Verhandlungen folgen müssten. Auf Kritik stieß besonders die Absicht der EU, im Gegenzug für Milliardenzahlungen und politische Versprechungen die Flüchtlingsfrage auf den Rücken der Türkei abzuladen.

Ömer Çelik, Sprecher der Regierungspartei AKP, warnte die EU vor dem Versuch einer „politischen Bestechung“. Die türkische EU-Bewerbung und das europäische Flüchtlingsproblem seien zwei unterschiedliche Dinge, erinnerte er. Çelik betonte zudem, es gebe noch gar keine Einigung. Vielmehr werde weiter verhandelt. Präsident Recep Tayyip Erdoğan äußerte sich nicht direkt zu den Gesprächen mit Brüssel, kritisierte aber ganz grundsätzlich, dass sich die EU nach wie vor weigere, die Türkei aufzunehmen. Zudem machte er sich über Berichte lustig, die die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wegen ihrer Flüchtlingspolitik zur Favoritin für den Friedensnobelpreise erklärt hatten. Die Türkei habe 2,2 Millionen Syrer aufgenommen und werde nicht einmal erwähnt, sagte er.

Die EU will Ankara im Gegenzug für verschärfte Grenzkontrollen mit beschleunigten Verhandlungen über Visa-Erleichterungen, die Wiederaufnahme von Gesprächen über einen EU-Beitritt sowie mit milliardenschwerer Unterstützung entgegenkommen.

„EU macht aus Türkei Flüchtlingshotel“

Wie Çelik kritisierte auch die türkische Opposition die Haltung der EU. Merkel, die am Sonntag in Istanbul mit Erdoğan über die Flüchtlingskrise sprechen will, soll auf eine „radikale Veränderung“ der türkischen Syrien-Politik dringen, sagte der Außenpolitiker Nazmi Gür von der Kurdenpartei HDP zur „Presse“. Zudem sei es falsch von der türkischen Regierung, die Flüchtlinge als „Trumpfkarte“ in den Beziehungen zur EU einzusetzen.

Der Istanbuler Politologe Savas Genc bemängelte, die EU habe über viele Jahre jeden Fortschritt im türkischen Beitrittsprozess verhindert, stelle nun plötzlich doch die Öffnung neuer Verhandlungskapitel in Aussicht. „Das ist eine Unverschämtheit“, so der Politologe. „Die EU macht aus der Türkei ein billiges Flüchtlingshotel.“

Mit Aufmerksamkeit wurde in der Türkei auch registriert, dass die EU plötzlich zu Zugeständnissen in der für viele Türken sehr wichtigen Frage der Visa-Erleichterung bereit ist. Indirekt liefen die Zusagen zwei Wochen vor der Parlamentswahl am 1. November auf eine Wahlkampfunterstützung für Präsident Recep Tayyip Erdoğan und dessen Regierungspartei AKP hinaus, sagte Genc. Der Journalist Oguz Karamuk geht noch weiter. Er findet das Vorgehen der EU schlicht „widerlich“.

Grenzabschottung nicht möglich?

Experten bemängelten auch, dass die von der EU verkündete Einigung an der Realität in der Türkei vorbeigehe. So sei es schlicht unmöglich, die türkischen Grenzen Richtung EU abzuschotten, sagte der führende Migrationsforscher der Türkei, Murat Erdoğan von der Ankaraner Hacettepte-Universität, der „Presse“. „Eine Grenzschließung ist unmöglich und unmoralisch. Das wird die ganze Welle nicht stoppen.“

Stattdessen brauche man dem Experten zufolge eine gemeinsam ausgearbeitete regionale Flüchtlingspolitik sowie einen radikalen Wandel des türkischen Umgangs mit den Flüchtlingen. Das Problem sei nicht mit ein paar EU-Milliarden zu lösen.

Bisher betrachtet die Türkei die Syrer im Land als geduldete „Gäste“ ohne Rechte etwa auf dem Arbeitsmarkt und ohne Bewegungsfreiheit im Land. Obwohl bereits 150.000 syrische Kinder in der Türkei auf die Welt gekommen seien, gebe es keine Integrationsprogramme, kritisierte Erdoğan.

Ein Hauptgrund für die Lage ist laut dem Migrationsforscher, dass die türkische Regierung ihre Syrien-Politik ganz auf den angestrebten Sturz von Präsident Baschar al-Assad konzentriere, das mittelfristig zu erwartende Flüchtlingsproblem aber ausblende: Ankara gehe nach wie vor davon aus, dass die Syrer nach einem Ende des Konflikts nach Hause zurückkehren würden. „Aber sie werden bleiben.“

Kritischer Fortschrittsbericht

Das Verhältnis zwischen der Türkei und der EU bleibt zudem weiter angespannt. Dazu dürfte auch ein Bericht über die Beitrittsreife des Landes beitragen. Die EU-Kommission hatte die Bewertung angesichts der aktuellen Verhandlungen zurückgehalten, doch am Freitag kam ein Entwurf an die Öffentlichkeit. Er kritisiert laut Austria Presseagentur eine Verschlechterung der Sicherheitslage im Land. So hätten die Regierungsstellen eine umfassende Anti-Terror-Militär- und Sicherheitskampagne gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) gestartet, sowohl in der Türkei als auch im Irak. „Der Friedensprozess zur Kurdenfrage wurde trotz früherer positiver Entwicklungen zu einem Stillstand gebracht“, heißt es in dem Berichtsentwurf.

Auch in demokratiepolitischer Hinsicht beklagt der Report Rückschritte: Die scheidende Regierung habe Bemühungen unternommen, den EU-Beitrittsprozess neu zu beleben. Doch in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit, Meinungsfreiheit und Versammlungsrecht werde weiterhin gegen europäische Standards verstoßen. Was die politischen Kriterien betreffe, habe sich der Reformprozess in der Türkei verlangsamt, auch wegen der verzögerten Wahlen und der politischen Polarisierung.

AUF EINEN BLICK

Die EU und die Türkei haben nach Angaben aus Brüssel eine Grundsatzeinigung zur Bewältigung der Flüchtlingskrise erzielt. EU-Ratsvorsitzender Donald Tusk erklärte nach dem Treffen der Staats- und Regierungschefs, der Türkei sei für eine bessere Grenzsicherung eine Beschleunigung des Visa-Liberalisierungsprozesses und „sehr viel Geld“ angeboten worden. Die Türkei spricht lediglich von einem Entwurf des Aktionsplans. Einen Zeitplan zur Umsetzung gibt es noch nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.10.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Oct 8 2015 Brussels Bxl Belgium Johannes Hahn EU commissioner for Neighbourhood policy and
Europa

Juncker gegen Hahn: Türkei-Frage spaltet die EU-Kommission

Disput um Zeitpunkt der Reise von Kommissionsvertretern nach Ankara.
PK �VP ´FUNKTIONS�BERGABE IM GENERALSEKRETARIAT´: MCDONALD
Europa

McDonalds erster Auftritt beim EVP-Kongress

Die Flüchtlingskrise dominiert das Treffen der bürgerlichen Parteien. Auch die ÖVP hatte dazu etwas beizutragen.
Leitartikel

Flüchtlinge, Lügen und Europas Realitäten

Manche Probleme können nicht einfach auf Dritte abgewälzt werden, sie müssen gelöst werden. Europa hat Verantwortung in dieser Fluchtwelle.
Merkel und Erdoğan
Außenpolitik

Türkei: Merkels verlockende EU-Angebote

Die EU braucht Ankara in der Flüchtlingskrise. In Istanbul versprach Merkel daher schnellere EU-Visa und Beitrittsverhandlungen. Und Erdoğan will mehr als drei Mrd. Euro.
Europa

Merkel stellt Türkei neues EU-Verhandlungskapitel in Aussicht

Die EU setzt bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise ganz wesentlich auf die Türkei. Sie will in den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ein neues Verhandlungskapitel eröffnen.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.