Wie Erdoğan sein eigenes Vermächtnis zerstört

TURKEY REPUBLIC DAY ERDOGAN
TURKEY REPUBLIC DAY ERDOGAN(c) APA/EPA/TURKISH PRESIDENT PRESS (TURKISH PRESIDENT PRESS OFFICE/H)
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Ohne die Türkei können Syrien-Konflikt und Flüchtlingsfrage nicht gelöst werden. Unter Erdoğan wurde die Regionalmacht aber auch Teil des Problems.

Es scheint, als würden kurz vor der Parlamentswahl die letzten Hemmungen fallen: Mit einer brachialen Polizeiaktion haben die türkischen Behörden die Kontrolle über die Koza-Ipek-Holding übernommen. Die Zeitungen und TV-Sender der Mediengruppe sparten zuletzt nicht mit Kritik an Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Jetzt stehen sie unter staatlicher Zwangsverwaltung. Das erste, sichtbare Resultat: Präsident und Premier wurden am Freitag in den zuvor so kämpferischen Zeitungen stimmungsvolle Bilder gewidmet – ganz in Orwell'scher Anmutung. Auf der Titelseite von „Millet“ umfängt ein Meer aus türkischen Fahnen bei einer Parade den Präsidenten. Und auf dem Foto gleich darunter lässt Premier Davutoğlu Friedenstauben gen Himmel aufsteigen.

Erdoğans Gefolgsleute ziehen alle Register, um bei der Wahl am kommenden Sonntag endlich eine absolute Mehrheit für ihre Partei AKP zu erkämpfen. Dabei wollen sie sich von niemandem behindern lassen – schon gar nicht von unliebsamen Medienunternehmen wie Koza-Ipek, das dem Prediger Fethullah Gülen nahestehen soll. Gülen war einst ein enger Mitstreiter Erdoğans. Mittlerweile sind die beiden Männer aber erbitterte Feinde.

In seinem Drang nach immer mehr Macht hat Erdoğan frühere Verbündete entfreundet und seine eigenen Reformansätze zunichtegemacht. Ob die EU-Staaten das nun gutheißen oder nicht, kümmert ihn schon lang nicht mehr. Erdoğan sieht sich am längeren Hebel. Er weiß um die Angst in der EU davor, dass sich noch mehr Flüchtlinge als bisher auf den Weg nach Europa machen. Diese Angst scheint Europas Politiker blind für die Probleme in der Türkei zu machen – für das Vorgehen gegen kritische Journalisten und die Eskalation in den Kurdengebieten.

Deutschlands Kanzlerin, Angela Merkel, bescherte Erdoğan dabei auch noch ein Wahlkampfgeschenk: Sie besuchte ihn in Istanbul im Dolmabahçe-Palast und bat ihn um Hilfe. Der türkische Staatschef soll dafür sorgen, dass die fast zwei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei nicht weiter in die EU ziehen. Erdoğan kann sich knapp vor der Wahl als international angesehener Staatsmann präsentieren, der von der mächtigsten Person Europas hofiert wird. Bisher hatten die EU-Staaten die Türkei mit der gewaltigen Zahl an vertriebenen Syrern weitgehend alleingelassen. Erst jetzt, da sich immer mehr Flüchtlinge bis in die Europäische Union durchschlagen, sieht man endlich Handlungsbedarf.

Egal, ob in Ankara nun Erdoğans AKP oder jemand anderer regiert: Die Türkei ist eine wichtige Regionalmacht, zu der die EU-Staaten ein vernünftiges Verhältnis haben sollten. Man braucht das Land, um die Lage der Flüchtlinge zu verbessern. Und der türkische Außenminister sitzt nicht ohne Grund bei den Syrien-Verhandlungen in Wien mit am Tisch. Ohne Ankara kann das Bürgerkriegsland nur schwer befriedet werden.

Die Türkei muss Teil einer Lösung sein. Den Europäern muss aber klar sein, dass sie unter Erdoğan zugleich auch Teil des Problems geworden ist. Lang drückten die türkischen Behörden alle Augen zu, als Jihadisten die Grenze zu Syrien überquerten. In Ankara hoffte man, dass diese Extremisten Syriens Diktator, Bashar al-Assad, in Schwierigkeiten bringen würden. Später sah man mit Freude dabei zu, wie die al-Nusra-Front und der Islamische Staat (IS) über Syriens Kurden herfielen. Anfangs hat sich Erdoğan noch offen für einen Ausgleich mit den Kurden gezeigt. Mittlerweile setzt er aber auf militärische Mittel. Doch damit wird er den Konflikt nicht lösen können.

Die ihm verhassten Milizen der syrischen Kurden erfahren gerade eine politische Aufwertung: In ihr Gebiet wollen die USA Spezialeinheiten für den Kampf gegen den IS entsenden. Sollte in der Türkei der Friedensprozess mit der kurdischen Untergrundorganisation PKK nicht bald wieder gestartet werden, droht nach Syrien ein weiterer Konfliktherd an der Haustür der EU außer Kontrolle zu geraten. Mit allen Folgen – wie auch einer neuen Flüchtlingswelle.

Unter Erdoğan erlebte die Türkei einst neue politische Freiheiten und Wirtschaftsaufschwung. Jetzt ist er dabei, dieses Vermächtnis wieder zu zerstören.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2015)

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