Die Rache der Jesiden: „IS-Terroristen sind Tiere“

Nach dem kurdische Einheiten den Islamischen Staat aus der Stadt Sindschar im Nordirak vertreiben ko
Nach dem kurdische Einheiten den Islamischen Staat aus der Stadt Sindschar im Nordirak vertreiben ko(c) imago/Sebastian Backhaus (imago stock&people)
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Jesidischen und kurdischen Kämpfern bietet sich nach der Befreiung der irakischen Stadt Sinjar ein Bild des Schreckens: Die Terrormiliz IS hinterlässt Massengräber sowie geplünderte und verwüstete Häuser.

Von ihnen sind nur noch die Knochen und die Kleider übrig. Seit einem Jahr liegen sie schon unter der Erde. Wie Müll hatte sie der Islamische Staat (IS) verscharrt. Es sind insgesamt über 150 jesidische Männer, Frauen und Kinder, die von den Extremisten in zwei abgelegenen Massengräbern „entsorgt“ wurden. In einem davon liegen 80 Frauen im Alter von 40 bis 80 Jahren. Nach Zeugenaussagen wurden sie aussortiert und getötet, weil sie als Sexsklavinnen nicht mehr attraktiv genug waren.

Das schaurige Verbrechen kam erst nach der Befreiung von Sinjar ans Tageslicht. Am Freitag haben 7500 Soldaten den Jesidenort in der autonomen Kurdenregion (KRG) des Irak zurückerobert. „Der Fund dieser Massengräber trübt natürlich unsere Freude,“ sagt Major Kassim Simo, der nun für die Sicherheit Sinjars verantwortlich ist. „Leider ist zu erwarten, dass wir noch mehr dieser schrecklichen Gräber finden.“

Hass auf arabische Nachbarn

Ein Büro hat Simo noch nicht. Er leitet und befiehlt von der Straße aus. Denn 70 Prozent der Stadt, darunter alle administrativen Gebäude, sind zerstört. Es ist ein Ausmaß der Verwüstung, das viele der Bewohner, die zurückkommen, um ihre Häuser zu inspizieren, in Tränen ausbrechen lässt. Alle Geschäfte, Häuser, Wohnungen sind geplündert, die Türen herausgerissen, Dächer eingestürzt, der Marktplatz ein Trümmerfeld, überall verbrannte Autos auf den Straßen. „Ich habe ja noch Glück gehabt“, meint Omar Kheder, der auf einem Stuhl vor seiner kleinen Villa mit Kalaschnikow Wache hält. „Mir wurden nur ein Laptop und der Fernseher gestohlen, das Haus ist in Ordnung. Aber all die anderen, die nichts mehr haben, das ist wirklich schrecklich.“

Im August vergangenen Jahres konnte die IS-Terrorgruppe die Jesidenstadt erobern. Die Peschmerga-Truppen waren kampflos abgezogen. Zehntausende Menschen mussten Hals über Kopf flüchten. Die meisten davon konnten sich vor den IS-Terroristen nur auf das nahe gelegene Sinjar retten. Andere hatten weniger Glück und wurden, wie die 150 Toten in den Massengräbern, brutal ermordet. Tausende Jesidenfrauen landeten auf den Sklavenmärkten in Mossul und Tal Afar.

Der Zorn und die Rachegefühle sitzen tief bei den Jesiden. Häuser von arabischen Familien werden angezündet, nachdem man sie vorher geplündert hat. „Das ist nur fair“, glaubt einer von drei Männern, die Kühlschrank und Waschmaschine auf einen Kleinlaster hieven. Ein Nachbar einer muslimischen Familie findet den Diebstahl auch nur recht und billig. Es sei vorbei mit der Freundschaft. „Sie sind Feinde“, sagt er.

Auf dem Marktplatz im Stadtzentrum ist eine Abteilung der Zervani-Elitetruppe der Peschmerga-Armee mit gepanzerten Fahrzeugen und mobilen Flugabwehrgeschützen postiert. Sie steht bereit, falls der IS angreifen sollte. Einer von ihnen ist Ahmed, der zwei Jahre lang in Kempten gelebt hat. „Der IS hat Angst vor uns und ist beim Angriff davongelaufen“, sagt er, eine Zigarette im Mundwinkel. Die Kampfjets der internationalen Koalition hätten sie auf der Flucht dann plattgemacht.

„Paris bringt die Wende“

Ahmed glaubt an eine Kehrtwende. Die Attentate von Paris hätten Europa deutlich gemacht, wie gefährlich die Terroristen sind. „Wir wissen schon lang, dass sie Tiere sind“, sagt Ahmed, „unberechenbar, brutal und erbarmungslos.“ Auch Major Simo, der Sicherheitschef von Sinjar, sieht in den Paris-Anschlägen einen Wendepunkt. „Frankreich und Europa haben keine Wahl, sie müssen etwas tun“, meint Simo in seinem großen Wohnzimmer der Polizeibasis im Ort Snuni. Die Uniform hat er abgelegt, er trägt Trainingshose und T-Shirt. Der Westen könne sich im Kampf gegen den IS nur auf die Kurden verlassen und werde sie nun noch mehr unterstützen.

Der Adjutant serviert Tee, während Major Simo auf dem Sofa IS-Dokumente durchsieht, die in Sinjar erbeutet wurden. Es sind Urlaubsscheine von Kämpfern sowie Passfotos für Ausweispapiere. „Die meisten der IS-Leute stammen aus Mossul“, erklärt Simo und reicht einige der Urlaubsscheine. Die Zettel tragen die Aufschrift, „Regierung des Kalifats“, nennen Namen, Einheit und Funktion der Kämpfer. „Alle werden digital erfasst, und sollte der Name je wieder auftauchen, werden diese Leute verhaftet“, versichert Simo. „Die Rückeroberung Sinjars ist ein großer Erfolg der Peschmerga“, erklärt der Sicherheitsschef. „Die Stadt wurde allein von ihnen in nur 48 Stunden befreit.“ Damit sei der Nachschubweg des IS nach Mossul abgeschnitten, die Bahn frei für einen Angriff auf diese Extremisten-Hochburg.

Der Weg nach Mossul ist frei

Das Resümee des „großen Sieges“ klingt gut. Nur gibt es auch eine andere Version der Ereignisse. Sie erfährt man in der Basis der jesidischen Miliz YPS. Sie ist ein Ableger der Kurdenarmee YPG in Syrien, die dort in Kooperation mit der amerikanischen Luftwaffe dem IS über 10.000 Quadratkilometer an Territorium dieses Jahr abgenommen hat. „Wie waren am Freitagmorgen um 6.30 Uhr als erstes in Sinjar“, behauptet Agid Kalari, der sich als YPS-Kommandant vorstellt. Dabei war er bisher als ein prominenter Militärführer der Miliz der kurdischen Arbeiterpartei PKK bekannt. „Dreieinhalb Stunden nach uns kamen erst die Peschmerga in die Stadt.“ Es hat einen Grund, warum die Miliz ausgeblendet wird. Denn die linksgerichtete PKK ist für die KRG-Regierung ein ungeliebter politischer Gegner, dessen Präsenz nur widerwillig geduldet wird.

„Wenn ich ehrlich bin“, erzählt Kalari, „hat es in Sinjar keinen großen Kampf gegeben.“ Der IS habe sich zurückgezogen. „Die Bombenangriffe der Koalitionsflugzeuge waren sehr effektiv.“ Es stimme, dass der Nachschubweg des IS nach Mossul nun eingeschränkt sei. „Aber leider haben die Terroristen längst einen neue Route.“ Und die führe weiter südlich quer durch die Wüste nach Syrien in die Stadt Deressor. In Syrien läuft seit über zwei Wochen eine Offensive der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF). Diese Union aus kurdischen, arabischen und christlichen Milizen hat am Wochenende dem IS die Grenzstadt al-Hole entrissen. Für die Terrorormiliz brechen harte Zeiten an. Angriffe auf ihre Hochburgen, Rakka und Mossul, sind nur eine Frage der Zeit.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.11.2015)

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