Seit 2004 knüpfen die Türkei und Russland wirtschaftlich enge Bande. Jetzt droht eine Zäsur.
Wien. Gerade einmal elf Jahre ist es her, dass Kremlchef Wladimir Putin als erster russischer Präsident offiziell die Türkei besuchte. Das Motiv neben den neuen Machtkonstellationen im kaspischen Raum und den neuen Sicherheitsbedingungen infolge des Irak-Krieges war damals vor allem ein wirtschaftliches: Eine engere Zusammenarbeit in den Branchen Energie und Rüstung sollte dem Ansinnen nach entstehen. Geplant, getan. Heute sind die beiden Staaten eng verwobene Handelspartner mit einem Warenaustausch von 31 Mrd. Dollar (29,2 Mrd. Euro) im Vorjahr, der bis 2020 auf 100 Mrd. Dollar ansteigen sollte, wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Ende des Vorjahres nach seinem Treffen mit Putin erklärte. Nach Zahlen der türkischen Statistikbehörde Turkstat ist Russland heute der größte Warenlieferant der Türkei.
Seit dem gestrigen Abschuss eines russischen Kampfflugzeuges durch die Türkei steht das mittelfristige Ziel beim Handelsvolumen freilich mehr denn je infrage. „Wenn Russland einen solchen Freund wie die Türkei verliert“, hatte Erdoğan schon im Oktober anlässlich zweier Luftraumverletzungen gewarnt, „verliert es viel. Und Moskau soll sich dessen bewusst sein.“ Man könne nämlich Gas auch anderswo zukaufen, auch das erste türkische Atomkraftwerk, Akkuyu – das die Russen bauen und in das sie schon drei Mrd. Dollar investiert haben –, werde laut Erdoğan eben jemand anderer errichten.
Bisher verlor nur die Türkei
In der Tat steht viel auf dem Spiel, schließlich deckt die Türkei 60 Prozent ihres Gas- und 35 Prozent ihres Ölbedarfs durch Importe aus Russland. In den vergangenen Jahren ist die Türkei zu Gazproms zweitgrößtem Gaskunden hinter Deutschland aufgestiegen. 27,3 Mrd. Kubikmeter wurden im Vorjahr ins Land am Bosporus geliefert, was mehr als dem Dreifachen des österreichischen Jahresverbrauchs entspricht. 25 Mrd. Dollar haben die Türken unter dem Strich im Vorjahr den russischen Exportfirmen überwiesen. Vor allem der private, zweitgrößte russische Ölkonzern Lukoil verdient mit seinem Tankstellennetz am Bosporus gut und plant, drei Mrd. Dollar in Raffinerien ebendort zu investieren. Aber auch jenseits des Rohstoffsektors sind die Russen längst aktiv. So hat die staatliche Sberbank vor drei Jahren die neuntgrößte türkische Bank, Deniz, die ihre Dienste auch in Österreich anbietet, für 3,5 Mrd. Dollar gekauft – bis dato eine Erfolgsgeschichte. Und bei der türkischen Telekommunikation mischen die Russen – und zwar ein Oligarchenkonsortium rund um Michail Fridman als Aktionäre bei Turkcell – mit.
Dass die Türken selbst mit ihrem Warenexport nach Russland nur die bescheidene Differenz zum Handelsvolumen verdient haben, ist kein bilaterales Spezifikum. Die Türkei leidet traditionell unter einem riesigen Handelsbilanzdefizit, das im Vorjahr trotz niedrigen Öl- und Gaspreises insgesamt immer noch 84,5 Mrd. Dollar betrug. Stieg der gesamte Export aus der Türkei im Vorjahr noch um vier Prozent an, so ging der nach Russland um 14 Prozent zurück. Dennoch gehört Russland zu den wichtigsten Exportmärkten der Türken. Neben Textilien, Agrarprodukten und Baudienstleistungen sind es die touristischen Dienstleistungen. Mit dem steigenden Wohlstand wurden die Russen zur zweitgrößten Tourismusgruppe hinter den Deutschen. Bis zum Vorjahr: Mit der Abwertung des Rubels nämlich brachen sie 2015 weg.
Wink mit dem Zaunpfahl
War dieser Schlag noch fast ausschließlich finanziell bedingt, so zeichnen sich inzwischen Schläge für Russland ab, die bereits auf die geopolitischen Verwerfungen wegen Syrien zurückzuführen sind. Ende Oktober hat der staatliche türkische Gaskonzern Botas die internationale Handelskammer (ICC) angerufen, weil Gazprom versprochene Rabatte beim Gaspreis nicht eingehalten habe. Und was den Bau der Gaspipeline Turkish Stream betrifft, die Putin zu Beginn des Jahres als Ersatz für die abgesagte South Stream angekündigt hatte, so kommt man im Moment nicht voran. Inzwischen hat Gazprom Turkish Stream auf die halbe Kapazität – sprich 32 Mrd. Kubikmeter – herunterskaliert. Das Zwischenregierungsabkommen steht noch aus, weshalb die Inbetriebnahme des ersten Stranges um ein Jahr bis Ende 2017 verzögert werden dürfte. „Nicht schlimm“, meinte kürzlich Gazprom-Vizechef Alexander Medwedjew.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.11.2015)