Das Land der 122.279 Präsidenten

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Der Titel "Bundespräsident" darf laut Artikel 61 der Verfassung nur vom Staatsoberhaupt geführt werden. Präsident aber darf jeder sein – und in Österreich sind das mindestens 122.279 Personen.

In einer Demokratie sind solche Regierungszeiten eigentlich unbekannt. 29 Jahre. Das ist fast schon eine Regentschaft auf Lebenszeit, eine Spanne, die normalerweise nur Monarchen erreichen – oder Diktatoren.

Aber Wilhelm Wohatschek. ist kein Diktator und auch kein König. Ganz im Gegenteil: Wohatschek muss sich sogar alle drei Jahre der Wahl stellen, ein Bundespräsident nur alle sechs Jahre. Dafür ist beim Staatsoberhaupt „eine Wiederwahl für die unmittelbar folgende Funktionsperiode nur einmal zulässig“, wie Artikel 60 der Bundesverfassung festschreibt und wir gerade erleben. Im Wohatscheks Welt ist die Wiederwahl für die unmittelbar folgende Funktionsperiode so lang möglich, solang er kandidiert und man ihn wählt. Mittlerweile bald zum zehnten Mal, die letzten Male stets ohne eine einzige Gegenstimme.

Wilhelm Wohatschek ist der Präsident der Präsidenten, der Herrscher über die Herrscher von 384 Vereinen. Wohatschek ist Präsident des Zentralverbands der Kleingärtner Österreichs. Seit 1987 bestimmt er von seinem Amtssitz in Wiens zweitem Bezirk aus die Geschicke der meisten Kleingartenvereine Österreichs.

Der Präsident des Kleingartenvereins ist für die meisten Menschen ja der mächtigste und unmittelbarste aller Präsidenten. Legende sind die strikten Herrscher über Hausordnung und Vorschriften, die etwa mit Maßband durch die Schrebergärten gehen und sogar die Farbe der Liegestühle bestimmen. Oder die, wie der Präsident eines Vereins in Wien-Liesing, zur Mittagszeit per Megafon Ruhe einfordern.

Der Präsident des Kleingartenvereins muss stets als Synonym für die Titelsucht der Österreicher herhalten. Denn natürlich ist der Chef eines Kleingartenvereins immer ein Präsident, selten ein Obmann (vor fünf Jahren haben sich beispielsweise die Landesorganisationen der österreichischen Kleingartenvereine zu einer Statutenänderung entschlossen: Die Vorsitzenden waren fortan keine Landesobmänner mehr, sondern Präsidenten). Aber natürlich sind sie nicht die einzigen Präsidenten Österreichs. Insgesamt hat das Land 122.279 Präsidenten – so viele Vereine waren mit Stand 31. Dezember 2015 registriert.


Trauma der Österreicher. Der gebürtige britische Psychoanalytiker Felix de Mendelssohn, der in Wien und Berlin lebt, analysierte einst in einem Interview mit der „Presse“, dass die Österreicher ein schweres Trauma wegen des Untergangs des einstigen Weltreichs, der Monarchie und des Zusammenschrumpfens des Landes hätten. Man fühlt sich in hierarchischen Strukturen aufgehoben, man mag es, wenn es amtsmäßig und geordnet abläuft. Daher die vielen Vereine mit ihren Präsidenten, Vizepräsidenten, Kassierern und Schriftführern.

Die Sehnsucht wird größer, wie die Zahl der gemeldeten Vereine vermuten lässt. Ende 2006 gab es 109.551 Vereine in Österreich, 1986 überhaupt nur 68.732 – etwas mehr als die Hälfte der heute registrierten Vereine. Laut einer Erhebung der Statistik Austria im Jahr 2002 waren 41,1 Prozent der männlichen und 26,3 Prozent der weiblichen Bewohner Österreichs Mitglied in zumindest einem Verein.

Untergliedern kann man die Vereine leider nicht mehr, weil das laut Innenministerium der Datenschutz verbiete. Ein nettes, aufschlussreiches Stöbern im zentralen Vereinsregister geht also nicht, man kriegt nur bei exakten Namensbezeichnungen Auskunft.

Früher dagegen fand man Vereine wie jenen der „Freiwillig Schwitzenden“, den „Verein der betrogenen Männer“, den „Verein zu virtueller Entsorgung“, den „Verein zur Förderung studierender Eltern“ oder den „Verein zur Rettung der Kleiderschürze“.

Deren Präsidenten haben vor allem eine Aufgabe: Sie haben dafür zu sorgen, dass sich die Mitglieder regelmäßig treffen und der Verein somit seiner ureigensten, nämlichen sozialen Aufgabe nachkommt. Nur wenn Brot und Spiele passen – da unterscheiden sich Vereine wenig von der Politik –, kann der Präsident bestehen.

Andere Präsidenten tragen mit ihrer Arbeit und ihrem Verein wesentlich die Gesellschaft: vom Roten Kreuz über die freiwilligen Feuerwehren, die Katastrophenhilfe, die Bergrettung, bis zu den vielen Umwelt- und Tierschutzvereinen – die ehrenamtliche Arbeit dieser Mitglieder erspart dem Staat viele Milliarden. Und dann gibt es noch die Präsidenten, die weltweit bedeutend sind: Voestalpine-Chef Wolfgang Eder etwa, der Präsident des Weltstahlverbandes ist.

Wie mächtig Präsidenten sein können, zeigte sich vor exakt 45 Jahren. 1971 konnte der Wiener Polizeichef Josef Holaubek den Ausbrecher und Geiselnehmer Walter Schubrisch mit einem einzigen, legendären Satz zur Aufgabe überreden: „Komm her, Walter! I bin's, der Präsident.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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