Flüchtlingskrise: Der Teufel wird uns retten

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AFP PICTURES OF THE YEAR 2015-GREECE-EUROPE-MIGRANTSAPA/AFP/ANGELOS TZORTZINIS
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Besteht das Problem nicht darin, dass die Grundlage gemeinsamer Werte verloren ist? Betrachtungen zum Untergang Europas von Josef Haslinger.

Die liberale schwedische Politikerin Cecilia Malmström, die 2010–2014 EU-Kommissarin für Inneres war, trat am Ende ihrer Legislaturperiode vor die Presse, um zu verkünden, man habe sich auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem geeinigt. Sie sprach von einem „historischen Erfolg“. Im Geleitwort zu einer Broschüre, die das Gemeinsame Europäische Asylsystem vorstellte, schrieb sie: „Sowohl für Asylbewerber als auch für Personen, denen Schutz gewährt wird, werden menschenwürdige und angemessene Bedingungen gewährleistet.“

Cecilia Malmström, die Innenministerin Europas, hat nicht mit dem Widerstand ihrer Kollegen von den Mitgliedstaaten gerechnet, schließlich hatten Rechts- und Asylexperten aus mehr oder weniger allen EU-Staaten mitgearbeitet. Als die Richtlinien für ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem veröffentlicht wurden, war das Flüchtlingsschiff vor Lampedusa schon untergegangen. Die Fluchtbewegung mit schrottreifen Schlepperbooten war in vollem Gange. Den Innenministern war klar, dass die Umsetzung des Asylsystems zunächst einmal hieß, darüber zu verhandeln, wie man die an den italienischen Küsten gestrandeten Flüchtlinge sinnvoll aufteilen kann.


Alleingelassen. Da war es für die einzelnen Staaten vorteilhafter, sich auf die Dublin-Verordnung zu berufen. Zuständig ist das Land, in dem der Flüchtling sicheren Boden betritt. Man ließ die Italiener allein und machte dem Land Vorhaltungen, weil es nichts dagegen unternahm, wenn Flüchtlinge nach Österreich und Deutschland weiterzogen. Es ist nicht gut, wenn Innenminister für die Asylpolitik zuständig sind. Es sollte Asylminister geben. Der Aufgabenbereich wäre so groß, dass der polizeiliche Aspekt nur eine untergeordnete Rolle spielte. Innenminister denken sofort an polizeiliche Abwehrmaßnahmen. Das ist ihnen nicht zu verübeln. Schließlich sind sie für unsere Sicherheit zuständig. Wir brauchen aber Minister, die sich für die Sicherheit von Flüchtlingen zuständig fühlen.

Das europäische Fazit des vergangenen Jahres könnte lauten: Wir konnten uns die Probleme der Welt nicht vom Leibe halten. Die legalen Fluchtwege nach Europa sind zwar noch immer geschlossen. Nur hat das jetzt ein Jahr lang nichts genützt, weil der massive Zustrom auf der Balkanroute das Dublin-System außer Kraft gesetzt hat. Für Österreich muss das eine besondere Kränkung gewesen sein, denn das Land fühlt sich nunmehr zuständig, dafür zu sorgen, dass die Fluchtrouten wieder in Italien und Griechenland enden.


Verlorener Traum. Die Präambel der „Charta der Grundrechte der Europäischen Union“ beginnt mit dem Satz: „Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.“ Es ist keine sieben Jahre her, dass diese Charta für alle europäischen Staaten, außer dem Vereinigten Königreich und Polen, Rechtskraft erlangte, und doch liest sie sich wie das Dokument eines verloren gegangenen Traums. Welche Völker sind noch entschlossen, „sich zu einer immer engeren Union zu verbinden“? Gibt es diese Grundlage gemeinsamer Werte noch? Besteht das europäische Problem nicht darin, dass die Grundlage gemeinsamer Werte verloren gegangen ist?

Die Charta spricht aus, welche Werte sie meint. Artikel 1 ist mehr oder weniger gleichlautend mit dem des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen.“ Es ist nicht von der Würde deutscher oder europäischer Menschen die Rede, sondern, vom „unteilbaren und universellen Wert der Würde des Menschen“. Darüber hinaus werden Freiheit, Gleichheit und Solidarität als grundlegende Werte genannt.

In dem Augenblick, in dem man die Würde in Wertklassen aufzuteilen beginnt, steht die gesamte Wertegrundlage zur Disposition. Da können die einen sich freier fühlen, die anderen vor dem Gesetz gleicher sein und die Dritten sich einbilden, Solidarität sei nur eine kommunistische Phrase gewesen. Sobald man anfängt, Menschenrechte zu verhandeln und beschränken, beschädigt man das Rechtssystem. Da dürfen dann in Europa Entführung und Folter vorkommen, wenn sie im bilateralen Dienst an den Amerikanern geschehen, da darf man vor Menschen, die dem Krieg entkommen wollen, einen Zaun hochziehen, auch wenn die hinter dem Zaun hundertmal das Wort Asyl rufen, da werden um Milliardenbeträge Flüchtlinge kollektiv an die Türkei verschachert, weil offenbar keinem der Verhandler Artikel 19.1 der europäischen Grundrechtecharta geläufig ist, in dem es schlicht heißt: „Kollektivausweisungen sind nicht zulässig.“

Die meisten Staaten fühlen sich für das Menschenrechtsgefüge Europas nicht zuständig. Von den Politikern der EU-Staaten ist hauptsächlich die weitere Auflösung der humanitären Rechtsordnung zu erwarten. Gefragt wäre die internationale Solidarität der EU-Bürger. Aber gibt es die überhaupt? Wo steht heute das stolze europäische Bürgertum und verteidigt das, was es 300 Jahre lang, über viele Rückschläge hinweg, beharrlich aufgebaut hat?


Abwehrschlacht. Asylrecht ist keine Garantie für ein Kollektiv, sondern ein Grundrecht bedrohter Menschen. Man kann einem Kollektiv Schutz gewähren, doch man darf Menschen eines Kollektivs nicht generell Schutzbedürftigkeit absprechen. Aber genau das geschieht. Man definiert sichere Herkunftsstaaten, um gleich einer ganzen Gruppe von Flüchtlingen den Asyl- und Schutzstatus zu verwehren. Als wären die nordafrikanischen Staaten und Afghanistan lupenreine Demokratien geworden.

Um bei dieser Abwehrschlacht erfolgreich zu sein, hat Europa sich die Türkei als Kettenhund eingekauft. Die Türkei hat bewiesen, dass sie es versteht, Massen in Schach zu halten und die Würde des Menschen in unterschiedliche Wertstufen aufzuteilen. Die Türkei ist nun unser Handelspartner für den Schacher mit Flüchtlingen geworden. Und bald wird sie unsere menschenrechtliche Außenstelle sein, die eigentliche Erstaufnahmestelle, zuständig dafür, die Flüchtlinge in Lagern zu sammeln und in europawürdige und europaunwürdige zu unterteilen.

Während die europäischen Staaten zweifelhafte Deals mit autokratischen Regierungen machen, rücken sie nicht näher zusammen, sondern werden gegeneinander zunehmend feindseliger. Nicht nur Menschen und Staaten, auch die sozialen Milieus beginnen sich voreinander abzuschotten. Man kann es als spezielle Variante dieser Feindseligkeit verstehen, wenn sich, wie in den USA, in Europa eine dünne superreiche Oberschicht und eine breite Unterschicht herausbilden. Ohne irgendeiner Theorie zu folgen, kann ein unvoreingenommener Blick in die Geschichte prophezeien, dass eine solche Konstellation keine stabile Zukunft verheißt. Stabile Zukunftsbilder, so hat es den Anschein, haben überhaupt abgedankt.

Europa, das große Friedensprojekt, wie es gern genannt wurde, ist zum Abwehrprojekt von Flüchtlingen geworden. An den neu befestigten Grenzen hilft das Militär der Polizei aus. Allerorten wird aufgerüstet. Investitionen in Polizei und Militär finden breite Zustimmung. Doch die Heimtücke des Feindes besteht darin, dass er unbewaffnet erscheint. Das ist seine Rache an Europa. Als wüsste er ganz genau, dass das viel beschworene europäische Wertesystem einen Krieg gegen einen unbewaffneten Feind nicht überleben wird. Am Ende sind wir die Verlierer.


Alpenfestung. In Österreich hat man noch andere Überlegungen: Wenn die Festung Europa nicht zu halten ist, bauen wir uns eine neue Alpenfestung. Friede unseren Hütten und Palästen, Krieg denen, die sich nicht mit griechischen und türkischen Zeltstädten begnügen. Vor einem Jahr hat Werner Faymann sich als besonders verständnisvoller Partner von Alexis Tsipras ausgegeben, mittlerweile hat er seinen Freund auf schmählichste Weise im Stich gelassen. Was ist, wenn Rudolf Hundstorfer trotzdem nicht in die Stichwahl kommt? Dann sind die guten Beziehungen zu Griechenland und Deutschland ruiniert und die Wahl ist auch verloren. Aber vielleicht wird Rudolf Hundstorfer gerade wegen dieses Schwenks verlieren. Weil die SPÖ in der Flüchtlingskrise keinen solidarischen Weg mehr kennt, sondern auf schlichte Abwehrhaltung nationaler Dumpfbacken umgeschwenkt ist.

Naturgesetze unterscheiden sich vom Wirken des lieben Gottes grundsätzlich dadurch, dass sie keine Gnade kennen. Wenn wir die Erde mit Treibhausgasen und Kohlendioxid erwärmen, hat das Folgen, die wir durch gemeinsame Gebete nicht verhindern können. Eine wird darin bestehen, dass unsere Kinder in einer Welt leben, in der sich nicht sechzig Millionen, sondern zehnmal so viele auf den Weg machen werden, weil die Landstriche ihrer Herkunft unbewohnbar geworden sind.

Keine Angst, niemand wird uns zwingen, solche Menschen, denen es nur ums nackte Überleben geht, aufzunehmen. Sie sind ja Wirtschaftsflüchtlinge. Und wie die Dinge sich entwickeln, ist es völlig unvorstellbar, dass es zu einem internationalen Vertrag kommt, in dem wir uns verpflichten, Menschen nur deshalb aufzunehmen, weil sie daheim verhungern.

Eher werden wir uns mit dem Teufel zusammentun und nicht nur Zäune, sondern auch einen stabilen Abwehrschirm für den Luftraum bauen. Denn über kurz oder lang werden die Feinde mit Drohnen kommen. Die erfolgreichen Schlepper werden vielleicht Lifter heißen, weil sie es vermögen, die Flüchtlinge über die Zäune zu liften. Darauf sollten Johanna Mikl-Leitner und Hans Peter Doskozil sich besser jetzt schon gefasst machen.

GASTAUTOR Josef Haslinger

Geboren im Juli 1955 im niederösterreichischen Weinviertel. Studium und Promotion in den Fächern Philosophie, Theaterwissenschaft und Germanistik.

Autor zahlreicher, oft gesellschaftskritischer Texte und Romane, u.a. „Vaterspiel“, „Opernball“ (der später verfilmt wurde) und „Phi Phi Island“.

1992 einer der Mitbegründer von SOS Mitmensch, seit 1996 Professor am Deutschen Literaturinstitut Leipzig.

Seit Mai 2013 ist der Vater zweier Kinder Präsident des PEN-Zentrums Deutschland, einer Schriftstellervereinigung (PEN steht für Poets, Essayists, Novelists).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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