Der Streit zwischen dem Bahncaterer Henry am Zug und der Gewerkschaft wirft ein Schlaglicht auf die komplexen Mindestlohnfragen beim grenzüberschreitenden Arbeitskräfteeinsatz.
„Wenn normales Arbeiten illegal ist, dann muss man es halt bleiben lassen“: Damit stellte Do&Co-Chef Attila Doğudan kürzlich die Rute ins Fenster, im Streit mit der Verkehrsgewerkschaft Vida. Diese monierte seit 2012 die Praktiken des Caterers im Dienste der ÖBB. Dem Tochterunternehmen Henry am Zug wurde vorgeworfen, unter „normalem Arbeiten“ wettbewerbsverzerrende Mindestlöhne, Arbeitszeitüberschreitungen und die Verletzung von Zeitaufzeichnungspflichten bei seinen ungarischen Mitarbeitern zu verstehen. Deshalb droht ihm eine saftige Verwaltungsstrafe von 1,3 Mio. Euro – und das einem Unternehmen, das im Geschäftsjahr 2014/15 nur 161.000 Euro an Gewinn erzielte.
Jetzt macht Doğudan seine Drohungen wahr und löst den Vertrag mit der ÖBB „aus wichtigem Grund“ vorzeitig auf. Die Leistungen werden „nur mehr befristet“ erbracht, um einen geordneten Übergang zu ermöglichen, teilte das börsennotierte Unternehmen in einer Ad-Hoc-Meldung am Mittwochabend mit. Sofort bahnt sich nun ein neuer Konflikt an. Denn die ÖBB-Führung will von einem „wichtigen Grund“ offenbar nichts wissen: Sie pocht in einer schriftlichen Stellungnahme darauf, dass der Vertrag wie geplant bis Anfang 2017 gültig weiter laufe. Für die Zeit danach muss ohnehin neu ausgeschrieben werden.
Richtlinie „falsch verstanden“
Was aber wirft Vida dem Caterer konkret vor? Die Angestellten aus Ungarn sollen für eine 40-Stunden-Woche 500 Euro verdienen – ihre nach dem heimischen Gastgewerbe-Kollektivvertrag bezahlten österreichischen Kollegen erhalten 1400 Euro brutto. Doğudan habe wohl die Entsenderichtlinie falsch verstanden, heißt es vonseiten des Vida-Gewerkschafters Gerhard Tauchner. Die Diskussion um die Entlohnung des ungarischen Bordpersonals, das bis dato auf den ÖBB-Strecken von und nach Ungarn eingesetzt wurde, wirft ein Schlaglicht auf die juristische Gemengelage in puncto Mindestlohn bei Grenzübertritten zwischen Hoch- und Niedriglohnländern.
Die konkreten Vertragsverhältnisse sind nicht eindeutig bekannt. Laut Gewerkschaft wurden die ungarischen Angestellten von einer ungarischen Personalleasingfirma entsendet. Hier sollen aber auch Varianten durchgespielt werden, in denen das österreichische Unternehmen Henry am Zug oder seine ungarische Firmentochter die Mitarbeiter aus Ungarn angestellt hat.
► Um zu wissen, welches nationale Arbeitsrecht auf die grenzüberschreitende Tätigkeit anzuwenden ist, ist zuerst mit der in der EU geltenden sogenannten Rom-I-Verordnung – genauer ihrem Artikel 8 – nach dem „gewöhnlichen Arbeitsort“ der Arbeitnehmer zu fragen. Hier wird vom Europäischen Gerichtshof im Transportgewerbe auf Abfahrts- und Ankunftsort der Mitarbeiter und ihr überwiegendes Tätigkeitsfeld abgestellt.
Kommt man zum Schluss, dass das ungarische Bordpersonal überwiegend in Österreich arbeitet, greifen die Regeln zur Bekämpfung des Lohn- und Sozialdumpings nach Paragraf 7 Arbeitsvertragsrechts-Anpassungsgesetz (AVRAG). Sie schreiben unter anderem die Anwendung kollektivvertraglicher Mindestlöhne vor. Sollte wiederum herauskommen, dass die Dienstleistungen zu rund 60 Prozent (der von der herrschenden Lehre fixierte Grenzwert) in Ungarn erbracht werden, greift ungarisches Arbeitsrecht.
► Hat man diesen Sachverhalt geklärt, wird es jedoch nicht einfacher: Denn im zweiten Fall kann eine Entsendung nach dem Wortlaut der Richtlinie vorliegen. Doğudan interpretierte sie naturgemäß anders als die Gewerkschaft: „Würde die Entsenderichtlinie für das Transportgewerbe so ausgelegt werden, wie die Gewerkschaft das meint, müssten auch Piloten, die über mehrere Länder fliegen, mehreren Kollektivverträgen unterliegen“. Würde die Richtlinie greifen, würden auch automatisch die Lohn- und Sozialdumping-Regeln des Paragrafen 7b AVRAG schlagend. Und die schreiben für Entsendete aus dem EWR-Raum österreichische KV-Löhne vor. Ob das der Fall ist, hängt aber davon ab, ob die Arbeitskräfte in Ungarn geleast, von der ungarischen Tochter entsendet oder von der österreichischen Mutter angestellt wurden.
► Philipp Maier, Anwalt in der Kanzlei Baker & McKenzie, spinnt den Gedanken weiter: Was wäre, wenn keine Entsendung vorliegt? Etwa wenn Henry am Zug die Mitarbeiter eingestellt hat und man Doğudans Argumentation folgt, dass die Stewards wie das AUA-Kabinenpersonal nicht mehreren KV unterliegen? Oder wenn man den Fall als bloßen Transit im Frachtgewerbe einstuft, bei dem die Richtlinie nach herrschender Lehre ebenfalls nicht greift? „Damit endet das Thema noch nicht. Die Eingriffsnormen kommen dennoch zur Anwendung“, so Arbeitsrechtsexperte Maier. Denn Rom I sieht in Artikel 9 den Vorrang gewisser nationaler Vorschriften vor. Bei ihnen wiegt das öffentliche Interesse so schwer, dass sie auch greifen, wenn ungarisches Recht gilt.
In Juristenkreisen ist man sich einig, dass österreichische Arbeitszeitregeln darunterfallen. „Für kollektivvertraglich vereinbarte Mindestlöhne gibt es aber keine gefestigte Rechtsprechung“, so Maier. Im Einzelfall komme es darauf an, ob der Einsatz der niedriger entlohnten Mitarbeiter in Österreich eine wettbewerbsverzerrende Situation schafft, unter der andere Marktteilnehmer leiden. Ein klares Indiz, dass man Mindestlöhne wegen ihrer sozialpolitischen Bedeutung als Eingriffsnormen werten könnte, seien laut Maier aber die im Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz fixierten Strafen.
Es zeigt sich an diesem von der Praxis losgelösten Beispiel: Das Thema ist aufgrund der fehlenden Judikatur und des Zusammenspiels von Rom I und der Entsenderichtlinie zu komplex, um es auf die Frage „Österreichischer KV – Ja oder Nein“ herunterzubrechen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2016)