Beide Lager haben sich mittlerweile argumentativ eingemauert. Die Polarisierung nimmt zu – zwischen wirtschaftlicher Räson und Angst vor Zuwanderung.
London. Nach zögerlichem Beginn läuft die Kampagne für die Volksabstimmung über die Zukunft Großbritanniens in der EU mittlerweile auf Hochtouren. An großen Worten wird nicht gespart. Während Premierminister David Cameron, der für den Verbleib wirbt, von „der wichtigsten Entscheidung unserer Generation“ spricht, bezeichnet der frühere Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der das Austrittslager anführt, das Referendum als „unsere letzte Chance, das Prinzip der Demokratie zu behaupten“.
In der Auseinandersetzung haben sich mittlerweile die wichtigsten Themen herauskristallisiert, und beide Seiten forcieren massiv jene Aspekte, von denen sie sich Vorteile erwarten. „Das ist eine Volksabstimmung, in der beide Seiten vorgefasste Positionen haben, die nicht in Übereinstimmung zu bringen sind“, sagt der führende britische Wahlforscher John Curtice.
Während die EU-Befürworter auf die Wirtschaft und die Position Großbritanniens in der Welt setzen, werben die Gegner mit den Themen Einwanderung und Kosten der Mitgliedschaft. Die von Cameron im Februar ausgehandelten Neuregelungen für die britische EU-Mitgliedschaft sind völlig aus der Diskussion verschwunden. Liam Fox, ehemaliger Verteidigungsminister und EU-Gegner, nennt das Abkommen mit den europäischen Partnern „nicht das Papier wert, auf dem es geschrieben wurde“. Auch die Befürworter wollen an die angebliche „völlige Neuordnung des Verhältnisses“ lieber nicht erinnert werden.
Dafür versuchen sie, mit der Wirtschaft zu punkten. In dieser Frage spricht sich eine überwältigende Mehrheit der Experten und Verbände für den Verbleib in der EU aus. Schatzkanzler George Osborne warnt vor Einkommensverlusten für jeden Haushalt von 4300 Pfund (5600 Euro), Bank-of-England-Gouverneur Mark Carney vor einer „technischen Rezession“ und Christine Lagarde, Chefin des Internationalen Währungsfonds, sagt: „Die Folgen eines EU-Austritts reichen von ziemlich schlecht bis zu sehr, sehr schlecht.“
Obwohl die EU-Gegner dies als Angstmache abtun und der Regierung vorwerfen, in „empörender Form den Staatsapparat für ihre Propaganda zu missbrauchen“, kommt die Botschaft offenbar an: „Wir haben das wirtschaftliche Argument“, sagt der Sprecher des Ja-Lagers, James McGrory. „Großbritannien ist stärker und wohlhabender in der EU.“
Das wichtigste Thema der EU-Gegner ist hingegen die Einwanderung. Während Cameron im Wahlkampf eine Verringerung der Zahl auf „wenige Zehntausende“ angekündigt hatte, kamen allein im Vorjahr 330.000 Menschen neu ins Land. Mit der Forderung: „Wir wollen die Kontrolle über unsere Grenzen zurück“, sprechen die Brexit-Anhänger jenes Thema an, das nach allen Umfragen heute an der Spitze der Sorgen der Briten steht.
350 Millionen Pfund pro Woche
Aus der starken Einwanderung leiten die EU-Gegner auch die enormen Belastungen des Sozialwesens, die akute Wohnungsnot, insbesondere in den Ballungsgebieten Südenglands, und die Überlastung der öffentlichen Infrastruktur ab. In dieselbe Kerbe schlagen sie mit ihrem zweiten Hauptargument, wonach Großbritannien in der Woche 350 Millionen Pfund nach Brüssel zahle. „Ich würde dieses Geld lieber für unser Gesundheitswesen ausgeben“, sagt Gisela Stuart, aus Deutschland stammende Labour-Abgeordnete und führende EU-Gegnerin.
Diese Liste ist lang. Landwirtschaftsstaatssekretär George Eustace verspricht den Bauern eine „18-Milliarden-Pfund-Dividende“, die frühere Chefökonomin des Schatzkanzleramts, Andrea Leadsom, kündigt ein „Konjunkturprogramm von zehn Milliarden Pfund“ nach Wegfall des britischen EU-Beitrags an. Von der Stahlindustrie bis zu quotengeplagten Fischern soll sich über allen ein wahres Füllhorn der Gaben auftun.
Die EU-Befürworter verweisen darauf, dass europäische Staaten, die am Binnenmarkt teilnehmen wollen, ohne der Union anzugehören, „Nettozahler sind – und keinen Einfluss auf Entscheidungen haben, denen sie sich dennoch fügen müssen“, wie McGrory sagt. Mit Staaten wie Norwegen oder der Schweiz vergleicht sich das stolze Großbritannien aber ohnedies nicht gern.
EU-Gegner wie Nigel Farage von der populistischen United Kingdom Independence Party (UKIP) behaupten, dass kein Land in der EU mehr souverän sei. „75 Prozent unserer Gesetze werden heute in Brüssel gemacht.“ Der frühere Premierminister John Major erwidert: „Wer absolute Souveränität wünscht, muss sich Nordkorea zum Vorbild nehmen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.06.2016)