Großbritanniens führender Wahlforscher, John Curtice, über die Kampagnen vor dem Referendum am 23. Juni, unterschiedliche Wählerschichten und ihre Beweggründe.
Die Presse: Die Referendumskampagnen sind in vollem Gang, es gibt dramatische Warnungen auf beiden Seiten und dennoch scheinen sich die Umfragen kaum zu bewegen. Warum?
John Curtice: Das ist eine Volksabstimmung, in der beide Seiten vorgefasste Positionen haben, die nicht in Übereinstimmung zu bringen sind. Die Wirtschaftsfrage spielt wohl dem Pro-EU-Lager in die Hände. Eine relative Mehrheit der Menschen glaubt, dass es uns innerhalb der Union ökonomisch besser geht. Aber umgekehrt wollen sich viele Menschen nicht von außen vorschreiben lassen, was sie zu tun haben. Man kann es mit Warnungen auch übertreiben.
Würden Sie den Befürwortern der Mitgliedschaft empfehlen, ihr Themenspektrum zu erweitern?
Beide Seiten übertreiben mit ihren Aussagen, und die Menschen wissen das. Es schadet insgesamt der Glaubwürdigkeit der Kampagnen.
Entscheidet dann das Vertrauen in einzelne Protagonisten wie Premierminister David Cameron oder Boris Johnson?
Das ist möglich, aber in Wahrheit genießt keiner der Akteure besonders hohe Vertrauenswerte. Die Lage ist besonders verwirrend für Wähler der Konservativen, die derzeit ihre Richtungsanweisungen von zwei entgegengesetzten Seiten bekommen.
Ist es nicht seltsam, dass die britischen Wähler sagen, sie wollen nicht von nicht gewählten Brüsseler Bürokraten regiert werden, zugleich aber ihren eigenen Politikern auch nicht vertrauen?
Der entscheidende Punkt ist, dass wir unseren Politikern, egal für wie nutzlos wir sie halten, das Recht einräumen, uns zu vertreten. Den EU-Bürokraten wird diese Legitimität nicht zugestanden. Am Ende des Tages fühlt sich höchstens die Hälfte der britischen Bevölkerung europäisch und die EU und Brüssel sind das „andere“. Auch aufseiten der Befürworter des Verbleibs gibt es nur wenige, die mehr Einfluss der EU in Großbritannien wollen. Das ist genau der Punkt, um den es in Camerons Verhandlungen gegangen ist.
Sehen Sie bereits Muster entstehen, wie die Bevölkerung abstimmen wird?
Es gibt zum einen das Muster der Generationen: Die Alten wollen gehen, die Jungen wollen bleiben. Zweitens spielt die Ausbildung eine große Rolle; Absolventen höherer Schulen sind eher für die EU-Mitgliedschaft, Menschen mit geringer oder keiner Ausbildung für den Austritt. Das ist eine Reflexion der unterschiedlichen wirtschaftlichen Perspektiven und Sichtweisen über den Platz in der britischen Gesellschaft. Junge Uni-Abgänger sind glücklich in einer multikulturellen Gesellschaft mit rapidem sozialen Wandel. Ältere Wähler, besonders mit geringer Ausbildung, stehen durch einen globalisierten Arbeitsmarkt unter Druck. Doch auch die Geografie spielt eine Rolle. In Schottland und Nordirland ist die EU-Mitgliedschaft ein Teil des Konzepts, wie die nationalen Bestrebungen erfüllt werden können. Die schottischen Nationalisten wollen Unabhängigkeit in der EU. Dagegen ist in Wales und Teilen Englands die Einstellung genau umgekehrt. Hier heißt es: Was will Brüssel schon wieder von uns, warum mischt sich die EU in unsere souveränen Rechte ein?
Funktioniert Angstmache?
Beide Seiten wenden sie an, aber bisher hat es nicht wirklich funktioniert.
Was sagt uns das über die Wählerschaft?
Es ist eine Wählerschaft, die über die EU-Frage gespalten ist, und tiefe soziale Gräben ziehen durch das Land. Viele Wähler sind ernsthaft im Zwiespalt, und müssen anerkennen, dass die gegnerische Seite Argumente vorbringt, denen sie auch zustimmen. Keine Seite hat also bisher ihre Ziele erreichen können.
ZUR PERSON
John Curtice ist ein führender Wahlforscher in Großbritannien: Der Politologe lehrt an der University of Strathclyde in Glasgow und hat bei der Parlamentswahl im Vorjahr bei Wahlschluss als Einziger den Überraschungssieg der Konservativen richtig prognostiziert. [ Centre on Constitutional Change ]
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2016)