Die demokratische Partei holt die Zweidrittelmehrheit im Unterhaus – Oppositionsführer Hatoyama wird neuer Premier. Soziale Ängste waren das Hauptmotiv bei einer beinahe schon revolutionären Protestwahl.
TOKIO. Zeitenwende in Japan: Die seit 1955 fast ununterbrochen herrschende Liberaldemokratische Partei (LDP) verlor bei der Parlamentswahl am Sonntag beinahe zwei Drittel ihrer Mandate – die Opposition übernimmt im Handstreich die Macht.
Soziale Ängste waren das Hauptmotiv bei einer beinahe schon revolutionären Protestwahl. Kaum hatte die Stimmauszählung in den 51.000 Wahllokalen begonnen, zeigten Prognosen, dass sich die Machtverhältnisse in der zweitgrößten Volkswirtschaft vom Kopf auf die Füße gestellt haben. Der Fernsehsender „TV Asahi“ sagte vorher, dass Demokraten-Chef Yukio Hatoyama bei ungewöhnlich hoher Wahlbeteiligung von fast 70 Prozent mit mehr als 300 der 480 Unterhaussitze rechnen und künftig regieren kann.
LDP-Amtsinhaber Taro Aso fuhr dagegen bei den von ihm selbst vorgezogenen Wahlen mit einem Verlust von fast 200 Mandaten die bisher schlimmste Niederlage der konservativen Liberaldemokraten ein, die jetzt mit Zerschlagung oder Selbstauflösung rechnen müssen.
Abrechnung mit Monopolpartei
Die rund 100 Millionen wahlberechtigten Japaner haben brutal mit der Monopolpartei abgerechnet. Zu tief steckt das fernöstliche Industriereich in der globalen Rezession, die neue Rekordarbeitslosigkeit von 5,7 Prozent schickt im Land der früheren Lebensanstellung Schockwellen durch praktisch jede Familie. Mit taktischem Ungeschick und arroganten Skandalen haben Aso und Co. der Opposition scharenweise Protestwähler in die Arme getrieben.
Die Söhne und Töchter Nippons zogen die Notbremse. Nicht unbedingt der Glaube an eine bessere Politik, viel mehr der Wunsch nach neuen Köpfen ließ sie fluchtartig die Front wechseln. Vieles am Wahlprogramm der Demokratischen Partei klingt verlockend. Mehr Föderalismus und Freiheit für die bisher von der Hauptstadt Tokio gegängelten Provinzen, Dezentralisierung und Machtabbau der Bürokratie, außenpolitische Positionen auf Augenhöhe mit den USA und China, internationale Kooperation auch beim CO-Ausstoß.
Viel wesentlicher zum Wandel beigetragen hat die Tatsache, dass die Demokratische Partei – zuweilen wider besseres Wissen und ohne klares Finanzierungskonzept – verspricht, in Japan wieder eine soziale „Kuschelecke“ einzurichten. Mit Kalkül auf die Gefühlslage seiner Landsleute hat Hatoyama den Wahlkampf unter die Slogans „Brüderlichkeit“ und „Liebe“ gestellt.
Mit Geldgeschenken an Eltern, Bauern, Arbeitslose, Rentner und Autofahrer soll der Reichtum im Reich von Toyota, Sony und Nintendo gleichmäßiger verteilt werden. Wahlsieger Hatoyama will in den nächsten drei Jahren 125 Milliarden Euro unters Volk streuen und den Mut zum Konsum fördern. Zweifelsfrei erreicht er damit zumindest vorübergehend einen Schub für die Binnennachfrage, um den schwächelnden Export als Wirtschaftsmotor zu entlasten.
Was der Staat zusätzlich verteilt, muss Hatoyama aber an anderer Stelle einsparen. Das geht zu Lasten von staatlichen Entwicklungsprojekten und damit zwangsläufig auf Kosten der arbeitsintensiven Bauindustrie. Viele Ökonomen halten diese abrupte Umverteilung für bedenklich. Mehr Arbeitslosigkeit könnte die Folge sein. Es sei zu befürchten, dass damit der wirtschaftliche Effekt für das Wachstum fast wieder aufgehoben wird. Der neue Premierminister wird schnell lernen müssen: Kein Industriestaat kann im Wettbewerb mit den großen Schwellenländern ohne aggressive Marktwirtschaft im Inneren seinen Wohlstand halten.
Der neue Premier ist zwar populär, aber nicht von Geburt an ein Mann des Volkes. Der 62-Jährige stammt aus dem japanischen Politik- und Geldestablishment – die Familie gehört zu den bekanntesten und reichsten Industrie- und Politikdynastien und wird gern mit dem Kennedy-Clan verglichen. Sein Großvater Ichiro Hatoyama war Premierminister, der andere, Shojiro Ishibashi, gründete den internationalen Reifengiganten Bridgestone. Der Vater war Außenminister, der jüngere Bruder Innenminister.
Vielleicht auch wegen seiner elitären Vita wirkt der 62-Jährige oft steif und exzentrisch. Manche nennen ihn allerdings auch uncharismatisch und wenig profiliert.
Ökonomischer Laie
Obwohl Hatoyama aus einer der reichsten Familien Japans stammt, gilt er als ökonomischer Laie, der „Wachstum als nationales Ziel“ ablehnt. Darin liegt das Problem dieses politischen Bebens. Zu Ende geht der oft zu neoliberale Reformkurs des einst populären LDP-Premiers Junichiro Koizumi (2001-06), der durch Privatisierung, Deregulierung und Abbau des Staatsdirigismus Japan vor der globalen Finanzkrise auf Tempo gebracht hatte. Jetzt gilt der Wahlsieger von 2005 als Sündenbock für die Niederlage.
Die LDP steht vor einer Zerreißprobe. Die besten Köpfe haben ins Oppositionslager gewechselt. Eine Neuformierung scheint fast unmöglich. Die Alternative wäre Selbstauflösung oder Zersplitterung. Damit stünde Japan am Ende dort, wovon es sich gerade verabschieden wollte: der Alleinherrschaft einer Partei auf viele Jahre. Leitartikel von Wolfgang Greber, S. 23
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.08.2009)