Stabilitätspakt: Wie der Verstoß zur Regel wird

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In 156 Fällen haben EU-Staaten die Drei-Prozent-Defizitgrenze überschritten. Sanktionen dürften auch für Spanien und Portugal ausbleiben.

Wien. Für Werner Muhm sind sie immer noch viel zu hart: die Maastricht-Kriterien, die eine übermäßige Verschuldung von EU-Mitgliedsländern verhindern sollen. Der früherer Direktor der Arbeiterkammer Wien meldet sich aus der Pension zurück, die er erst Anfang Juli angetreten hat. Öffentliche Investitionen, fordert er in einem Interview, müsste man bei Defizit und Schuldenquote herausrechnen dürfen. Aber leider hätte die EU da „sehr restriktive Regeln“.

Wie wenig diese Regeln tatsächlich greifen, zeigt eine aktuelle Statistik des Münchner IFO-Instituts: In 165 Fällen haben EU-Staaten die Defizitgrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung überschritten. Bei 51 Anlässen war es erlaubt, weil sich die Länder gerade in einer Rezession befanden, in 114 Fällen verboten. Eine „enorme“ Zahl an Verstößen, wie IFO-Chef Clemens Fuest beklagt.

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Ausgewertet wurden Daten von 1999, als der Stabilitätspakt in Kraft trat, bis inklusive 2015. Am häufigsten, nämlich elf Mal, verstieß Frankreich verbotenerweise gegen die Zusage. Vor einigen Wochen erklärte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker den Langmut seiner Behörde mit den Wiederholungstätern in launigen Worten: „Weil es eben Frankreich ist.“ Im Ranking der Defizitsünder folgen Griechenland, Polen und Portugal mit je zehn unerlaubten Überschreitungen. Das Versprechen durchgehend eingehalten haben nur die skandinavischen Länder und Estland. Österreich kommt auf drei Übertretungen, in den Jahren 2004, 2009 und 2010. Erlaubt war sie nur 2009, weil damals in der Krise die Wirtschaft schrumpfte.

Das Fazit von Fuest: „Offenbar wirken die Regeln nicht. Niemals wurden Sanktionen verhängt, die eigentlich vorgesehen sind.“ Es sieht ganz danach aus, dass es dabei auch bleiben dürfte. Zwar hat die EU den Stabilitätspakt vor vier Jahren überarbeitet und – dem Anspruch nach – strenger gemacht. Aber auch Spanien und Portugal haben trotz eindeutiger und wiederholter Verstöße wenig zu befürchten.

Erst hat die EU-Kommission ihre Entscheidung zu diesen beiden aktuellen Fällen um einen Monat verschoben, weil noch keine „endgültigen Zahlen“ für 2015 vorlagen (der Verstoß stand aber schon fest). Der wahre Grund war Rücksicht auf die Wahlen in Spanien Ende Juni. In der vorigen Woche kam Brüssel um die Bewertung nicht umhin: Ziele verfehlt, verschärftes Verfahren, für beide Länder. Die EU-Finanzminister haben die Feststellung am Dienstag gebilligt.

Es droht eine Strafe von null Euro

Nun ist wieder die Kommission am Zug. Sie könnte – und müsste wohl auch – Geldbußen in der Höhe von bis zu 0,2 Prozent des BIPs verhängen und zugesagte Mittel aus den EU-Strukturfonds einfrieren. Aber EU-Währungskommissar Pierre Moscovici hat schon angedeutet, wie er die „Intelligenz“ der überarbeiteten Regeln zu nutzen gedenkt: Brüssel kann eine Strafe von null Euro verhängen, es also bei einer Verwarnung belassen. Spielraum hat die EU-Kommission auch bei den Mitteln aus den Fonds: Sie dürfte eine Sperre bei „Wohlverhalten“ bald wieder aufheben.

Theoretisch könnten die EU-Finanzminister gegen das Verdikt Einspruch erheben. Aber nach dem neuen Pakt können sie es nur mit einer Zweidrittelmehrheit zu Fall bringen. Eine solche ist nur mit den Nordländern, die sich für eine Einhaltung der Regeln starkmachen, nicht zu erreichen. Eigentlich sollte diese in der Eurokrise eingeführte Hürde die EU-Kommission vor einer „Kumpanei“ der Finanzminister schützen. Womit man damals nicht gerechnet hat: dass die Hüter der Haushaltsdisziplin selbst kein Interesse zeigen, Sanktionen zu verhängen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.07.2016)

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