Kinder sind Raketen, denen Helikopter nicht nachkommen

Spielende Kinder
Spielende Kinder(c) Clemens Fabry
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Kinder haben heute keine Gstättn mehr, werden von den Eltern überwacht und umfassend vor Langeweile bewahrt – ihr Drang, eigene Wege zu gehen, ist dennoch stärker.

Nicola ist acht Jahre alt, ein aufgewecktes Mädchen, wie man so sagt – tatsächlich muss man sie nur selten aufwecken in der Früh, weil sie den neuen Tag ohnehin nicht erwarten kann. An Schultagen entfaltet sich die übliche Routine: Schlaftrunkene Erwachsene richten ein Frühstück, das zur Hälfte übrig bleibt, und wer von den beiden Elternteilen einen Schritt weiter ist, bringt Nicola zur Schule. Das heißt: Die begleitete Distanz wird immer kürzer, aktuell geht es bis zur Straßenbahn, ab dort übernimmt die Drittklässlerin und sollte bis fünf vor acht auf eigene Faust in die Klasse finden.

Natürlich könnte sie das auch schon von zu Hause aus, problemlos, es sind die Eltern, die zaudern. Es geht über eine blöde Straße, auf der Autofahrer vertrödelten Minuten hinterherjagen. Nicolas Großmutter pflegt bei diesem Thema gern einzuwerfen, dass sie als Volksschulkind im Morgengrauen kilometerweit ohne Eltern zu Fuß unterwegs war (in ihren Erzählungen stets in schlechten Schuhen durch meterhohen Schnee), im Schlepptau noch kleinere Kinder, ihr anvertraut. Aber im Kapfenberg der Fünfzigerjahre gab es wohl Autos, aber keinen Verkehr. Das Leben spielte sich für Kinder draußen ab, ein dankbares Kinderzimmer (auch mangels eines eigenen zu Hause). Und Ohrfeigen gab es, sagt Oma, denn nach Haus ging es erst, wenn es dunkel war und Hunger quälte, und das war den Eltern meist zu spät. Im Haushalt liefen Kinder eher so mit, als dass sie das Zentrum bildeten, das alles beherrscht. Was Kindern damals vielleicht fehlte: elterliche Aufmerksamkeit (hat auch Vorteile). Zahnpflege. Schutz vor erzieherischer Grobheit (Oma behauptet, das hat uns nicht geschadet. Sie kannte es aber nicht anders). Was Kindern heute vielleicht fehlt: Langeweile. Freiraum. Es gibt so viele Aufgaben, für die Schule und die Neigungsgruppen, und danach warten unzählige Instrumente zur Zerstreuung: Fernsehen (pädagogisch überwacht, dennoch 90 Prozent Ramsch), iPad („wertvolle“ Apps sind kein Dauerbrenner, Ramsch ist gefragt), Eltern, die streng auf quality time mit ihren Kindern achten.

Für Langeweile bleibt eigentlich keine Zeit. Und Freiraum ist zumindest räumlich begrenzt. Unten auf der Gasse ist Platz für Autos, aber nicht für Kinder, Gstättn gibt es keine mehr, die Parks sind Hundezonen und Spielplätze in schützender Erwachsenenhand. Da scheint es logisch, dass das Internet zunehmend die Gstättn wird, in der Kinder ihre Abenteuer erleben. Wenn es Youtube-Folgen von der „Sendung mit der Maus“ nicht mehr tun, werden sich Eltern wohl nach Filtern erkundigen, um den virtuellen Raum etwas abzustecken. (Die Verwahrlosung findet heute im digitalen Raum statt, weitaus unbemerkter als in früheren Formen.)

Flappt da schon der Helikopter? Es ist schon auffallend, dass sich in Kinderzonen so viele Erwachsene herumtreiben, die gute Eltern sein wollen. Heli-Eltern sind da noch harmlos, wenn die unvermeidlichen Kampfjet-Eltern am Himmel kreisen – wo immer sie die geringste Benachteiligung ihrer Kinder wittern, wird im Sturzflug an- und eingegriffen.

Allein zu Hause

Was könnte es Kindern schaden, in Rundumbehütung aufzuwachsen? Nicola weitet ihre Kreise mit großem Ehrgeiz aus: Billa, Bäcker, Freundin Lina. Ihre drei Dinge, die sie am liebsten tut: Radfahren, Freundinnen treffen – und allein zu Hause sein. Sie ist süchtig nach eigenen Erfahrungen. Bald wird sie den elterlichen Helikopter abschütteln wie eine Mondrakete. Für ihre zunehmende Selbstständigkeit ist sie zumindest gut trainiert.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.11.2016)

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