Porträt: „Der Kissinger von Würselen“

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Der leidenschaftliche Europäer Martin Schulz soll Angela Merkel als SPD-Chef und Spitzenkandidat Paroli bieten.

Mit einer Träne im Knopfloch hatte Martin Schulz im Herbst nach mehr als zwei Jahrzehnten im EU-Parlament seinen Abschied aus Brüssel verkündet. Mit umso größerem Eifer wollte sich der 61-Jährige, ein leidenschaftlicher Europäer, nun in die Berliner Politik stürzen. Die Rolle des Außenministers, als Nachfolger Frank-Walter Steinmeiers, war dem redseligen und in Europa bestens vernetzten Rheinländer wie auf den Leib geschneidert.

Kein Mikrofon, kein Podium, keine Talk-Show, wo der ausgebildete Buchhändler mit dem Hang zur plastischen Ausdrucksweise nicht weitschweifig über das europäische Projekt parlieren würde. In EU-Kreisen trug ihm dies den hämischen Spitznamen „Kissinger von Würselen“ ein. In dem Städtchen nahe Aachen, im Dreiländereck von Deutschland, den Niederlanden und Belgien, hatte der verhinderte Profifußballer einst als Bürgermeister seine politische Karriere begonnen.

Sein Disput mit Italiens Premier Silvio Berlusconi machte den Fraktionschef der Sozialdemokraten 2003 über die Grenzen Brüssels und Straßburgs hinaus bekannt, und als Chef des EU-Parlaments und als Player auf der europäischen Bühne war er dann vollends in seinem Elixier. Als sozialdemokratischer Spitzenkandidat für die Europawahl tourte er 2014 durch den halben Kontinent. Selbst nach seiner Niederlage war er mit Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ein Herz und Seele.

In Deutschland entwickelte Schulz indes eine Umtriebigkeit, die ahnen ließ, dass er sich zu Höherem berufen fühlt. Darunter litt nicht zuletzt die Freundschaft zu Sigmar Gabriel. Bei der Basis und den Funktionären gilt er als Kumpeltyp und als weit beliebter als der sprunghafte Gabriel. Dies gab nun auch den Ausschlag zu der Rochade in der SPD, die die geplante Inszenierung zur Kür des Kanzlerkandidaten über den Haufen warf. In der CDU feixen viele über den Merkel-Herausforderer: ein EU-Apparatschik als SPD-Hoffnungsträger? Selbst in seiner Heimat Nordrhein-Westfalen, einer SPD-Bastion, trauen ihm viele nicht zu, der Kanzlerin Paroli bieten zu können. (vier)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2017)

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