Kalkulierter Song-Contest-Boykott

Julia Samoilowa
Julia Samoilowa (c) imago/ITAR-TASS (imago stock&people)
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Das Einreiseverbot gegen Julia Samoilowa lässt Kiew hartherzig erscheinen. Doch Moskau hat mit der Nominierung einen Ausschluss in Kauf genommen.

Erinnert sich noch jemand an die Song-Contest-Querelen zwischen Russland und Georgien? Als im Jahr 2009 nach dem Vorjahressieg des Russen Dima Bilan der Wettbewerb in Moskau ausgetragen wurde, durfte Tiflis' frecher Beitrag nicht antreten. Die European Broadcasting Union (EBU) disqualifizierte den Discosong „We Don't Want Put In“, der als bissiger Kommentar über den damaligen Premierminister Wladimir Putin gelesen wurde.

Georgien wollte den Beitrag nicht abändern oder jemand anderen nach Moskau schicken. Man entschied sich gegen einen Kompromiss – und blieb dem Wettsingen fern. Wer behauptet, der Eurovision Song Contest (ESC) werde wie nie zuvor von verfeindeten Staaten instrumentalisiert, der hat nicht aufmerksam in den Annalen gelesen. Als der ESC zwei Jahre später in Aserbaidschan ausgetragen wurde, schickte der verfeindete Nachbar Armenien keine Musiker nach Baku. Auch hier stand die Politik zumindest der kaukasischen Völkerfreundschaft im Wege.

Mehr oder weniger subtile Messages

Die (mehr oder weniger) subtile Verbreitung politischer Botschaften im Schlagergewand oder dessen, was man an verschiedenen Punkten Europas als massentaugliche Kultur betrachtet, gehört zum Song Contest wie seine sonst größtenteils sinnbefreiten Lieder, von denen man die meisten spätestens nach dem Finale wieder vergessen hat.

Russland hat sich am Donnerstag entschieden, am diesjährigen Song Contest in Kiew nicht teilzunehmen. Kompromissangebote der EBU, die Kandidatin Julia Samoilowa via Liveschaltung aus Moskau einzuspielen oder einen anderen Interpreten zu nominieren, lehnte Jurij Aksjuta, Unterhaltungs-Verantwortlicher des staatlichen Ersten Kanals, mit dem Argument der „Diskriminierung“ der russischen Teilnehmerin ab.

Auch Kiew, dessen Verhältnis zu Russland seit mehr als drei Jahren schwer angeschlagen ist, war über den EBU-Kompromissvorschlag nicht froh. Der diesjährige Gastgeber hatte der im Rollstuhl sitzenden Kandidatin einen dreijährigen Einreisebann erteilt, da sie 2015 auf der von Russland annektierten Krim aufgetreten ist und aus ukrainischer Sicht illegal – vom russischen Staatsgebiet aus und nicht über die Festlandukraine – auf die Halbinsel gereist ist.

In der Ukraine ist seit Juni 2015 ein Gesetz in Kraft, das einen solchen Grenzübertritt mit Einreiseverbot ahndet. Kiew saß in der Zwickmühle. Dem Aufruf der EBU, in der Sache einzulenken, war man nicht gefolgt – und sah daher so hartherzig aus, dass Moskau eine große Freude gehabt haben musste. „Wir verurteilen die Entscheidung der ukrainischen Behörden auf das Schärfste, gegen Julia Samoilowa ein Einreiseverbot auszusprechen, da wir glauben, dass dies die Integrität und den unpolitischen Charakter“ des ESC unterlaufe, erklärte Frank Dieter Freiling, Vorsitzender der ESC Reference Group am Donnerstag. Die Eurovision-Fan-Community ist, so hört man, genervt von den Querelen und hofft für 2018 auf einen Austragungsort im „alten“ Europa, wo es keine Kriege gibt. Hoffnung gibt es: Italien ist bei den Buchmachern dieses Jahr der Favorit.

Kein Ende des Song Contest

Natürlich ist Samoilowa zu bedauern, die sagt, eine Teilnahme am ESC sei ihr großer Traum gewesen. Doch man wäre naiv, wenn man meinte, in der Affäre ginge es um die Karriere der jungen Frau. Moskau hat die Rollstuhlfahrerin mit Kalkül nominiert. Ihr Ausschluss war von Anfang an eine Option. Seit einiger Zeit mehrt sich in Russland die Kritik an dem Schlagerbewerb, den vor allem reaktionäre Kräfte als Ausdruck einer in Europa angeblich omnipräsenten homosexuellen Spaßkultur geißeln. Dass Russland am ESC weder teilnimmt noch ihn überträgt, passt vortrefflich in den heute propagierten antiwestlichen Wertekanon. Das Ende des Song Contest bedeutet es nicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.04.2017)

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