Warum brauchen wir überhaupt Umverteilung? Alle beugen sich ihrem Zwang, doch über ihre Gründe lässt sich trefflich streiten.
WIEN (gau). Wäre die Philosophie ein Jahrmarkt der Ideen, dann gäbe Peter Sloterdijk den Clown und Zauberer. Diesen Sommer stürzte der deutsche Gedankenakrobat sein Publikum wieder einmal in heillose Verwirrung: In einem langen Aufsatz für die FAZ erklärte er die heilige Kuh Sozialstaat zum Schlachtvieh. Die zwangsweise Umverteilung, so seine provokante These, könne nicht die letzte Weisheit der Geschichte sein. Denn sie unterwerfe die mündigen, aufgeklärten Bürger, die wir sein wollen, einem mächtigen Sozialstaat, der die Solidarität erzwingt und von Geldgeschenken abhängig macht. Wohlstand sei kein Produkt eines Diebstahls, der durch staatlichen „Gegendiebstahl“ gesühnt werden muss. Stattdessen plädiert Sloterdijk für „freiwillige Geschenke an die Allgemeinheit.“
Der Aufschrei war erwartbar groß. Hier werde asozial und unverantwortlich an den Grundfesten unserer Gesellschaft gerüttelt, so der allgemeine Tenor. Doch die Empörung deutet auch auf Unsicherheit hin: Wären dieses Fundament wirklich so fest gefügt, hätte es ja genügt, den postmodernen „Köpfeverdreher“ einfach auszulachen.
Tatsächlich ist die Umverteilung ein junges Kind der Ideengeschichte. Über Jahrtausende stand die gottgewollte Ordnung der Vermögensverteilung nicht in Frage. Dann übernahm das Bürgertum das Kommando, sicherte sich seine Freiheitsrechte und baute seinen Reichtum auf die Ausbeutung seiner Fabriksarbeiter. Erst die Furcht vor Unruhen erzwang soziale Reformen. Sozialversicherung und progressive Besteuerung verdanken wir weniger edlen Visionen als dem geordneten Rückzug einer bedrohten Elite.
Freilich sucht das liberale Lager gar nicht nach fundamentaleren Motiven: Umverteilung ist kein Selbstzweck, wird argumentiert. Zu rechtfertigen sei eine Teilenteignung der Besserverdienenden nur mit Argumenten, denen auch die Betroffenen zustimmen können. Und hier bietet sich der soziale Friede an, der mit dem Steueropfer erkauft wird. Strabag-Chef Hans Peter Haselsteiner brachte es auf den Punkt: Er lebe lieber in Österreich als in den USA oder Südamerika, weil er sich hier frei bewegen kann – ohne die Furcht, gekidnappt zu werden oder auch nur versehentlich die falsche Autobahnausfahrt zu nehmen. Tatsächlich zeigen die meisten empirischen Studien: Wo die Ungleichheit über ein bestimmtes Maß steigt (oft genannt wird ein Gini-Koeffizient von 0,4), steigt auch das Konfliktpotenzial und füllen sich die Gefängnisse.
Chancengleichheit - aber wie?
Doch diese pragmatische Rechtfertigung der Umverteilung ist vielen nicht genug. Es mangelt nicht an Versuchen, soziale Gerechtigkeit als Grundwert und Voraussetzung einer demokratischen Gesellschaft zu etablieren. Allgemeiner Konsens besteht darüber, dass Umverteilung notwendig ist, wenn Leben oder Gesundheit von Bürgern in Gefahr sind. Von da weg führt der Pfad ins Dickicht. Denn wer sich zur Marktwirtschaft bekennt, muss auch die Marktpreise für Arbeitsleistungen als fairen Wert akzeptieren. Damit richten sich die Bemühungen darauf, jedem gleiche Chancen zu geben, das seinem Fleiß und seiner Fähigkeiten entsprechende Einkommen zu erzielen.
Dabei zeigt sich, dass ein schöner Paragraf im Grundgesetz oft nicht genügt. So wie Frauenquoten die Gleichstellung erzwingen, soll Umverteilung jene „materielle“ Chancengleichheit herstellen, an der Markt und Gesetzgeber scheitern. Damit aber gerät die Umverteilung in einen ständigen Konflikt mit Freiheitsrechten, die sie einschränkt. Doch dieser Konflikt lässt sich entschärfen. Ein Vergleich der Sozialstaatmodelle von Skandinavien und Kontinentaleuropa (siehe Seite vier) macht deutlich: Hohe Investitionen in Bildung und der Abbau von Schranken am Arbeitsmarkt verbessern die Lebenschancen weit mehr als nachträgliche, passive Korrekturen durch Sozialtransfers. Für dieses schöne Ziel würde vielleicht auch Professor Sloterdijk wieder lieber seine Steuern zahlen.
(Die Presse, "Aufbrüche", 28.11. 2009)