Sexueller Missbrauch im Sport: Die Gefahr in Machtstrukturen

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Symbolbild Ski(c) APA/GEORG HOCHMUTH (GEORG HOCHMUTH)
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Abhängigkeiten auf dem Weg zum Erfolg begünstigen sexualisierte Gewalt im Sport. Rosa Diketmüller betreut ein EU-Projekt zum Thema, die ÖSV-Vorwürfe überraschten sie nicht.

Wien. Ob Bestürzung, Mitgefühl oder Ärger, die Schilderungen der Missbrauchserlebnisse der ehemaligen Skifahrerin Nicola Werdenigg, vormals Spieß, aus den 1970er-Jahren durch Kollegen und Trainer im Österreichischen Skiverband gegenüber dem „Standard“ haben hohe Wellen geschlagen. Während Jahrhundertsportlerin Annemarie Moser-Pröll angab, keine derartigen Fälle mitbekommen zu haben („Ich hätte mich gewehrt“), hat eine weitere Ex-Läuferin anonym ähnliche Erfahrungen wie Werdenigg geschildert: „Wir waren Freiwild.“
Nicht überrascht von den Enthüllungen war Rosa Diketmüller. Die Assistenzprofessorin am Institut für Sportwissenschaft in Wien leitet seit zwei Jahren das EU-Projekt „Voice“, das Betroffenen von sexualisierter Gewalt im Sport eine Stimme geben will.

„Es wird viel gemunkelt, jeder weiß ein bisschen was, scheut aber konkret zu werden“, beschreibt sie die schwierige Erhebung von Diskriminierung, Sexismus und sexualisierter Gewalt im Spitzensport. Die Dunkelziffer ist hoch, oft brauche es einen Anlass wie #metoo, damit Betroffene ihr Schweigen brechen und wie Werdenigg über ihre Erlebnisse sprechen.

Sexistische Machtstrukturen, enge Zusammenarbeit und Abhängigkeit auf dem Weg zum sportlichen Erfolg im Vereinswesen würden Missbrauch begünstigen, betreffen könne es alle. „Das streut quer durch die Gesellschaft“, sagt Diketmüller und führt eine Studie der Deutschen Sporthochschule Köln aus 2016 an. Demnach hat ein Drittel der 1799 befragten Kaderathleten schon einmal eine Form sexualisierter Gewalt und jeder Neunte schwere, länger andauernde Formen erlebt – Frauen signifikant häufiger. Generell betreffe Missbrauch beide Geschlechter, hält die Leiterin der Arbeitsgruppe „Gegen sexualisierte Gewalt im Sport“ fest, Verschwiegenheit und Scham sei bei Männern womöglich sogar noch größer.

Im „Voice“-Projekt arbeitet das Institut Wien mit 100% Sport und der Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien zusammen, bislang wurden sechs Interviews mit Betroffenen verschiedener Disziplinen geführt. Details wie die Sportarten darf Diketmüller nicht nennen, gerade Österreich sei klein und die Gefahr der Stigmatisierung der Opfer zu groß. Neben der Angst vor Verleumdung und Klagen hätten die meisten Betroffenen Sorge, durch öffentlich gemachte Fälle als Opfer gebrandmarkt zu sein und mit dem Thema nicht abschließen zu können.

Wenig Strukturveränderung

Beschwichtigungen, dass sich gesellschaftspolitisch in den vergangenen Jahrzehnten viel weiterentwickelt habe und die von Werdenigg beschriebenen Übergriffe daher als Teil der Vergangenheit anzusehen sind, hält Diketmüller für fraglich. „Die Strukturen im organisierten Sport haben sich noch wenig geändert“, sagt sie. Daraus dürfe man keinen Generalverdacht gegen Betreuer und Ausbildner ableiten, umgekehrt müsse man die Aussage von ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel, keine Kenntnis von Übergriffen während seiner Amtszeit zu haben, hinterfragen. Vor allem dahingehend, was als normal, was als „Pantscherl“ gelte und wo ein Übergriff beginne. „Da ist manchmal die Realität ein Stück weit verrückt, wenn auch nicht absichtlich“, meint Diketmüller.

Unter der Federführung von 100% Sport wurden in den letzten Jahren konkrete Maßnahmen erarbeitet, um zu mehr Geschlechtergerechtigkeit im österreichischen Sport beizutragen. Sportverbände wurden aufgefordert, Genderbeauftrage einzustellen, Ansprechstellen zu schaffen und in der Trainerausbildung anzusetzen. Ein proaktiver Umgang der Sportorganisation sei die beste Prävention.

Der ÖSV hat angekündigt, dem Thema künftig noch mehr Aufmerksamkeit zu widmen und Mitarbeiter zu sensibilisieren. Auch Diketmüller hofft, dass durch das „Voice“-Projekt betroffenen Menschen Mut gemacht wird, ihre Geschichten zu erzählen und dadurch andere in der Präventionsarbeit zu unterstützen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2017)

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