Jeder Zweite wünscht ein Ende des Parteiensystems und einen starken Mann an der Spitze.
Rom/Wien. Wenige Tage vor der italienischen Parlamentswahl am Sonntag schüttelte Silvio Berlusconi sein Ass aus dem Ärmel: EU-Parlamentspräsident Antonio Tajani kam nach monatelangem Zögern aus der Reserve. Donnerstagabend gab der 64-Jährige bekannt, als Premier für eine „europatreue Regierung“ zur Verfügung zu stehen, sollte der Mitte-rechts-Block an die Macht kommen.
Der Cavaliere, der wegen Steuerdelikten bis 2019 kein politisches Amt ausüben darf, hofft nun, bis Sonntag noch ein paar moderate Wähler zu gewinnen: Tajani macht die laut Umfragen chancenreichste Berlusconi-Koalition salonfähig. Er wäscht nicht nur Berlusconi rein. In den Schatten treten dank des EU-Politikers auch die radikalen Partner des Cavaliere: die ausländerfeindliche Lega mit ihrer EU-Hetze sowie die „postfaschistischen“ Fratelli d' Italia. Deren Chefin, Giorgia Meloni, machte bei einem Treffen mit Viktor Orbán deutlich, dass Italien sich lieber an die Visegrád-Gruppe annähern sollte, anstatt mit den „Franko-Deutschen“ zu paktieren. Von seinem loyalen Parteifreund Tajani hat zudem Berlusconi keine Konkurrenz zu befürchten: Der 81-Jährige ließ keinen Zweifel daran, dass er bei einem Sieg selbst die Geschäfte führen werde – als „Regisseur“.
Sehnsucht nach „starkem Mann“
Das letzte Wort ist aber noch nicht gesprochen: Auch wegen des neuen, komplizierten Wahlsystems wird ein Patt erwartet. Vieles hängt von unentschlossenen Wählern ab, immerhin ein Drittel der Stimmberechtigten. Viele tendieren zum Protestvotum. Davon könnte die „Fünf-Sterne“-Protestbewegung des Komikers Beppe Grillo profitieren. In Umfragen sind sie stärkste Einzelpartei. Der Erfolg der „Grillini“, die lange auf „Zerstörung der Kaste“ setzten, ist symptomatisch für die Stimmung: Viele wählen die Bewegung aus Protest, nicht aus Überzeugung: „Sie wollen anderen Parteien einen Denkzettel verpassen“, analysiert der triestinische Demoskop Roberto Weber bei einem Seminar des Forums Journalismus und Medien (FJUM) und der österreichischen Vertretung der EU-Kommission in Wien. Das Verhältnis der Italiener zur Politik ist von Frust und Misstrauen gegenüber der repräsentativen Demokratie geprägt. Regierung und Parlament wird nicht zugetraut, die Probleme des Landes zu lösen. Laut einer Umfrage des Institutes Demos glaubt jeder Zweite, die Demokratie würde besser ohne die Parteien funktionieren, die als „korrupt“ angesehen werden. Zwar sind immer noch 62 Prozent der Meinung, Demokratie sei die beste aller Regierungsformen. Der Wunsch nach direkter Demokratie (68 Prozent) vermischt sich zunehmend mit der Sehnsucht nach einer starken Führung: 65 Prozent sind der Meinung, Italien brauche einen „starken Mann“ an der Spitze. Die meisten Befragten sehen darin keinen Widerspruch zur direkten Demokratie.
Denn an ihre Institutionen glauben die Italiener nicht (siehe Grafik): Nur fünf Prozent hat Vertrauen in die Parteien, elf Prozent ins Parlament. 48 Prozent sind deshalb auch der Meinung, dass Steuerhinterziehung legitim sei. Die EU genießt zwar im Vergleich dazu mit 30 Prozent relativ hohe Achtung – allerdings wächst die Skepsis rasant: Vor zehn Jahren verließen sich noch 48 Prozent auf die Brüsseler Behörden.
In Rom lebt auch der Mann, dem die Italiener bei Weitem am meisten vertrauen. Kandidieren darf er aber nicht: Es handelt sich um Papst Franziskus.
Dossier zur Wahl:www.diepresse.com/Italien
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.03.2018)