Nur ein mickriger Anteil des Filmprogramms in Cannes kommt von Regisseurinnen. Dabei zählen deren Filme zum Besten, was es hier bislang zu entdecken gab.
Am Samstag marschierten 82 Frauen über den roten Teppich in Cannes, um ein Zeichen für Gleichberechtigung und gegen sexuelle Gewalt zu setzen - darunter Stars wie Kristen Stewart, Marion Cotillard und die 89-jährige Nouvelle-Vague-Legende Agnès Varda. Demonstrativ drehten sie dem Palais des Festivals den Rücken zu, um den Fotografen eine Art feministischer Phalanx zu präsentieren. Die Zahl der Beteiligten entsprach jener der Filmemacherinnen, die seit 1966 die prestigeträchtige Festivaltreppe erklimmen durften, eine mickrige Ziffer im Vergleich zu über 1600 männlichen Kollegen. Cate Blanchett, Vorsitzende der diesjährigen Wettbewerbsjury, verlas ein Statement, das mehr Fairness und Diversität in der Filmindustrie forderte.
Eine glamouröse Solidaritätsgeste aus der VIP-Loge, die Aufmerksamkeit schafft, aber noch keinen Strukturwandel macht. Dass die Wurzeln des Problems tiefer liegen als beim Auswahlverfahren des Cannes-Programms, dürfte jedem klar sein. Offenbar auch dem Festival-Intendanten Thierry Frémaux. Dieser unterzeichnete am Montag zusammen mit anderen Entscheidungsträgern eine Charta für Gleichheit und Inklusion, die unter anderem mehr Frauen in Festival-Chefetagen bringen soll.
Indes zählen Filme von Regisseurinnen zum Besten, was es hier bislang zu entdecken gab, auch abseits des Wettbewerbs. Debra Granik ("Winter's Bone") stellte ihr neues Werk "Leave no Trace" vor, das eindringliche Porträt eines Vater-Tochter-Gespanns, das sich aus der Gesellschaft ausgeklinkt hat und versucht, völlig autonom im Dickicht eines Nationalparks in Oregon zu überleben. Als die zwei entdeckt werden, gerät ihre Resozialisation zur Belastungsprobe ihrer Beziehung: Der Vater (Ben Foster), ein traumatisierter Veteran, kommt mit der Normalität nicht klar, während die junge Tochter (Thomasine McKenzie) nach und nach Gefallen an Gesellschaft und Gemeinschaft findet. Auf gründlicher Recherchebasis und mit semidokumentarischen Elementen schildert Granik ihr langsames Auseinanderdriften - ohne dabei in die Sentimentalität des rezenten, ähnlich angelegten Dramas "Captain Fantastic" zu verfallen.

Außergewöhnlich: Alice Rohrwachers "Lazzaro Felice"
Im Rennen um die Goldene Palme vertreten ist hingegen Alice Rohrwachers außergewöhnlicher neuer Film "Lazzaro Felice", eine zwischen Naturalismus und Märchen oszillierende Parabel über die Tradierung von Ungleichheiten: In einem italienischen Dorf in den Achtzigern herrschen feudale Verhältnisse (ein realer Fall), die Bauern wissen nichts von der Außenwelt und werden von einer Großgrundbesitzerin ausgenutzt. Nach einem Unfall muss sich eine reine Seele aus ihrer Mitte (Adriano Tardiolo, ein Jungtalent mit Heiligenantlitz) in der großen Stadt zurechtfinden, wo alle seine alten Bekannten um Jahrzehnte gealtert sind - und erkennen, dass sich im Grunde nicht viel an ihrer Situation geändert hat. Auch vor der Premiere dieses Films hätte der MeToo-Protest stattfinden können, stattdessen entschied man sich für die Uraufführung von Eva Hussons Soldatinnen-Epos "Girls of the Sun" - der von der Kritik allerdings nahezu einhellig abgelehnt wurde.