Notizen aus Cannes

Balkon-Voyeure und reiche Charmeure

Festival de Cannes
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Frustriert, haltlos, bindungsunfähig - und fasziniert von Mysterien: Die beiden Thriller "Under the Silver Lake" und "Burning" über junge verliebte Erwachsene sind auf mehreren Ebenen vergleichbar. Nur ist einer ungleich besser.

Ob es wohl Zufall ist, dass in Cannes kurz nacheinander zwei Filme Premiere feierten, in denen ein junger Mann das Polaroid-Foto einer abwesenden Frauenbekanntschaft als Masturbationsvorlage nutzt? Schwer vorstellbar. Soviel kuratorische Finesse hätte man den Filmfestspielen gar nicht zugetraut! Spaß beiseite: Wirklich bemerkenswert ist, dass sich beide Filme auch über diese kuriose Parallele hinaus vergleichen lassen - obwohl einer aus den USA stammt und der andere aus Südkorea. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Ersterer ist im Grunde ein mäanderndes Moralstück, Zweiterer ein Meisterwerk.

"Under the Silver Lake": Der Kiffer und die Verschwörung

Große Ambition kann man freilich auch "Under The Silver Lake" nicht absprechen. Nachdem sich Regisseur David Robert Mitchell in seinem gefeierten Horrordrama "It Follows" den Unsicherheiten der Jugend widmete, wendet er sich nun der existenziellen Misere junger Erwachsener zu. Als Genre-Platform dient ihm diesmal ein Paranoia-Thriller im Geiste von Brian De Palmas "Blow Out" und Paul Thomas Andersons Pynchon-Verfilmung "Inherent Vice", unentschlossen schwankend zwischen Wunderlichkeit und Ernst.

Andrew Garfield spielt mit dem Habitus eines verpeilten Schlurfs den perspektivlosen, latent aggressiven Kiffer-Bohemien Sam, der sich in die Swimmingpool-Schönheit Sarah (Riley Keough) verschaut, und zwar buchstäblich: mit dem Fernglas vom Balkon seiner Wohnung aus. Überraschenderweise zeigt sie Interesse an ihrem Voyeur, doch bevor die Romanze aufblühen kann, verschwindet Sarah spurlos. In ihrer Wohnung entdeckt Sam einen geheimnisvollen Gaunerzinken. Faules Spiel? Bald sieht er überall - vor allem in den Symboltapisserien der Popkultur - geheime Botschaften. Seine Spurensuche führt ihn immer tiefer in den Kaninchenbau einer verrückten Verschwörung.

Und Mitchell holt aus zum großen Statement über eine im Strudel der bedeutungslosen Signifikanten verlorenen Generation. Der Mangel an realen Werten und Bindungen, das Gefühl allumfassender Vernetzung und totaler Transparenz führt Haltlose wie Sam in obskure, alles verschlingende Obsessionen mit den Referenzsystemen und Glücksversprechen der Kulturindustrie - ganz bewusst präsentiert sich dabei auch der Film selbst als cinephile Anspielungsschleuder, die von Hitchcock bis Terry Gilliam reicht. Ganz unrecht hat Mitchell mit dem, was er sagt, nicht, und ein paar originelle Ideen finden sich "Under the Silver Lake" durchaus. Leider schafft es der Film ob seiner Konzeptseligkeit nur selten, wirklich mitzureißen, plätschert über weite Strecken eher apathisch dahin. Was allerdings auch irgendwie zur Hauptfigur passt.

"Burning": Thriller über die (Un-)Möglichkeit von Gerechtigkeit

Frustriert und ohne Halt ist auch Jongsu (Yoo Ah-in), der Protagonist von Lee Chang-dongs "Burning". Zufällig trifft der von seinen Eltern entfremdete Drifter seine alte Schulkollegin Haemi (Jun Jong-seo) wieder, die ihn zu einer Liebschaft verführt. Erstmals keimt Hoffnung im seelisch Versehrten. Doch bald kreuzt Haemi mit ihrem neuen Gspusi Ben auf, der mit verstörender Souveränität von Walking-Dead-Star Steven Yeun verkörpert wird. Ben hat alles, was Jongsu fehlt: Geld, Erfolg, Selbstbewusstsein, Charme, Humor, Status. Dabei strahlt er eigentümlichen Gleichmut aus, gibt sich freundlich und nahbar. Was genau er beruflich macht, bleibt unklar, selbst stellt er sich als Spieler vor - Arbeit und Spiel seien heute schließlich ein und dasselbe. Sein joviales Lächeln ist schwer zu deuten.

Festival de Cannes

Jongsu ist vom mysteriösen Bonvivant verunsichert, aber auch fasziniert. Immer stärker drängt ihn die fixe Idee, Ben habe etwas zu verbergen. Und "Burning", bis dahin im Modus jener präzise beobachteten, komplex konstruierten und dabei erstaunlich naturalistischen Dramen, die Regisseur Lee Chang-dong bekannt gemacht haben, nähert sich (auch ästhetisch) mehr und mehr düsterem Thriller-Territorium.

Doch eine billige Auflösung bleibt dem Publikum verwehrt. Obwohl Lee kunstvoll die Spannung zu steigern versteht, ist "Burning" im Grunde eine Mediation über die (Un-)Möglichkeit von Gerechtigkeit in einer von grundlegenden Ungleichheiten gespaltenen Gegenwart, die auf einer allgemeinen Ebene genauso funktioniert wie auf einer nationalen - der schauspieltechnisch wie inszenatorisch außergewöhnliche Film thematisiert nebenher auch spezifisch südkoreanische Klüfte zwischen Klassen und Geschlechtern. Und seine letzte Plansequenz brennt sich ins Gedächtnis wie ein großes, schmerzhaftes Fragezeichen.

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