Die Reform des Urheberrechts dürfte heute eine Mehrheit im Europaparlament finden. Der Streit über ihre Folgen endet damit allerdings wohl nicht.
438 zu 226: mit dieser klaren Mehrheit sprach sich das Europäische Parlament am 12. September vorigen Jahres für eine Reform der EU-Urheberrechtsrichtlinie aus, genauer: dafür, eine solche auf Basis eines mühsame errungenen Entwurfstextes mit dem Rat, also den nationalen Regierungen, zu beschließen. Im Februar einigten sich die beiden, und so geht es heute im Plenarsaal des Parlaments in Straßburg darum, diese Übereinkunft formal zu beschließen.
Wird sich die Mehrheit vom September 2018 sechs Monate später wieder finden? Auch wenn so manche damalige Ja-Stimme unter dem Eindruck der großen Protestkundgebungen vor allem in deutschen und österreichischen Städten vom vergangenen Wochenende wanken mag, ist eine Ablehnung des fertig verhandelten Entwurfes nicht sehr wahrscheinlich. Der SPD-Mandatar Tiemo Wölken erklärte am Montag zwar gegenüber der Deutschen Presseagentur, er habe die Streichung des besonders umstrittenen Artikel 13 beantragt und rechne damit, dafür eine Mehrheit zu finden. Doch warum sollten mehr als 100 Abgeordnete, die im September dafür waren, nun dagegen stimmen - wo einige inhaltlichen Änderungen seither den Bedenken gegen die Reform Rechnung getragen haben?
Morddrohung gegen Voss
Zweifellos lagen die Nerven einiger Beteiligter in den vergangenen Tagen ziemlich blank. Der deutsch Abgeordnete Daniel Caspary, Klubchef der CDU/CSU-Fraktion, verstieg sich im Interview mit der "Bild-Zeitung" zur Behauptung, die Demonstranten vom Wochenende erhielten pro Kopf 450 Euro dafür, gegen die Richtlinie auf die Straße zu gehen. Das brachte ihm einigen Spott ein und nötigte ihn zu einer kleinlauten Entschuldigung.
Doch auch auf der anderen Seite der Debatte kam es zu Entgleisungen. Casparys Parteikollege Axel Voss, als Berichterstatter des Parlaments für diese Richtlinie ein Schlüsselspieler im Gesetzgebungsverfahren, erklärte, er habe Mord- und Bombendrohungen erhalten. Die Grüne Helga Trüpel, die ebenfalls und anders als die meisten ihrer Fraktionskollegen für die Reform ist, berichtet von untergriffigen Beflegelungen via E-Mail.
In der Sache selbst sind die Fronten zwischen Gegnern und Befürwortern der mittlerweile 18 Jahre alten und an die digitale Welt nicht angepasste Richtlinie verhärtet. Artikel 11 (der nun Artikel 15 ist), welcher den Presseverlagen einen Leistungsschutz für im Internet veröffentlichte Artikel einräumt, ist für die einen das unerlässliche Mittel, um den Verlagen in Verhandlungen mit Google und anderen digitalen Konzernen Augenhöhe zu verschaffen, während die anderen darin eine Beschneidung der Meinungsfreiheit beziehungsweise ein kaufmännisches Eigentor der Verlage sehen.
Sie verweisen auf die Erfahrungen aus Deutschland und Spanien, wo in jüngerer Vergangenheit solche Leistungsschutzrechte geschaffen wurden. In Deutschland resultierte ein Gesetz aus dem Jahr 2013 darin, dass Google sich schlichtweg weigerte, Lizenzverträge mit den Verlagen auszuverhandeln, weshalb diese aus Sorge um den Verlust von Lesern, die über Google News zu ihnen kommen, fürs Erste auf ihre Leistungsschutzrechte verzichteten. In Spanien wiederum wurde 2014 eine Gebührenpflicht für Online-Nachrichtenplattformen eingeführt. Google News beendete daraufhin seinen spanischen Dienst.
Fehleranfällige Software
Artikel 13 (neu: Artikel 17), der zweite neuralgische Punkt der reformierten Richtlinie, soll eine Pflicht für die großen digitalen Plattformen einführen, urheberrechtlich geschützte Inhalte nur dann zu veröffentlichen, wenn sie eine entsprechende Lizenz dafür erhalten haben.
In der Praxis machen Youtube und andere Anbieter dies mit gemischtem Erfolg bereits, meinen die Gegner dieses Artikels. Sie warnen vor dem "Ende des Internets", sollte er in Kraft treten, weil ihrer Darstellung nach entweder viele Nutzer in vorauseilender Selbstzensur weniger Inhalte hochladen oder aber die Plattformen auf Filterprogramme für das Hochladen zurückgreifen würden, die auch erlaubte, lizenzfreie Nutzungen (zum Beispiel Parodien) herausfischen würden. "Eine Menge rosafarbener Haut in einem Video kann Pornografie sein, oder aber ein paar Schweine. Es ist schwer, komplett zu automatisieren", verwies der Experte Sean Sullivan von F-Secure, einem in Helsinki ansässigen Unternehmen für Cybersicherheit, in einer Analyse des Europäischen Zentrums für Presse- und Medienfreiheit ECPMF in Leipzig auf ein Problem, welches Google vor einigen Jahren mit der Programmierung von Bilderkennungssoftware hatte.
Hauptkritikerin Reda tritt ab
Das ECPMF hält in dieser Analyse fest, dass die Richtlinie drei Ziele erreichen muss: sie muss die Meinungsfreiheit bewahren, also vor allem Satire erlauben; sie muss die Plattformen dazu verpflichten, für den kreativen Inhalt zu bezahlen, den sie verwenden; und sie muss sicherstellen, dass Künstler, Musiker, Fotografen und Schreibende die Hauptnutznießer sind. "Wenn die Richtlinie diese Ziele nicht erfüllt, muss sie abgeschafft werden", resümiert ECPMF-Direktor Lutz Kinkel, der früher für die Onlineredaktionen von "Spiegel", "Tagesschau" und "Stern" arbeitete. "Wir werden die Wirkungen im Details prüfen – und unsere Zusammenfassung 600 Tage nach dem Inkrafttreten veröffentlichen."
So lange wollen die Gegner der Richtlinie nicht warten. Ihre Galionsfigur Julia Reda, die als Europaabgeordnete der deutschen Piratenpartei in der Fraktion der Grünen sitzt, gibt sich bereits geschlagen. Sie werde bei den Europawahlen im Mai nicht mehr kandidieren, sagte sie am vergangenen Freitag zu "Spiegel Online", und begründete dies so: "Ich habe festgestellt, dass mir in den parlamentarischen Debatten das akademische Niveau fehlt." Sie werde nun ihr Doktorat am Media Lab des Massachusetts Institute of Technology schreiben.