„Wer Istanbul regiert, der regiert die Türkei“: Der Ausgang der Bürgermeisterwahl am Bosporus hat Folgen für Präsident Erdoğan und seine AKP. Am Wahltag war der Ansturm groß.
Istanbul. Sie kamen mit dem Flugzeug, mit dem Bus und mit dem eigenen Wagen: Hunderttausende Istanbuler Wähler sind am Sonntag aus dem Sommerurlaub in die Metropole am Bosporus zurückgekehrt, um ihre Stimme bei der Wiederholung der Bürgermeisterwahl abzugeben. Von einem „unglaublichen Ansturm“ berichtete der Verband der Reisebusunternehmer, die Fluggesellschaft Turkish Airlines richtete Sonderflüge ein.
Die Entscheidung zwischen dem Oppositionspolitiker Ekrem Imamoğlu und Binali Yıldırım, dem Vertreter der Regierungspartei AKP von Staatschef Recep Tayyip Erdoğan, könnte eine landesweite Signalwirkung für die Türkei haben. Ergebnisse wurden am Abend erwartet. Fünf Gründe, warum Istanbul so wichtig ist – von Patronage bis zur politischen Rolle.
Größe
Etwa jeder fünfte Türke lebt in Istanbul. Mit 16 Millionen Einwohnern, davon fast 10,6 Millionen registrierten Wählern, stellt die Megastadt am Bosporus alle anderen Städte des Landes und Europas in den Schatten. In der Stadt leben mehr Kurden als in Diyarbakır, der größten Stadt des türkischen Kurdengebiets. Gleichzeitig ist Istanbul die neue Heimat von rund 550.000 syrischen Flüchtlingen.
Wirtschaftskraft
Istanbul erwirtschaftet fast ein Drittel des türkischen Nationaleinkommens. Die zehn größten Unternehmen der Türkei haben alle in Istanbul ihren Hauptsitz. Mit einem Volumen von 146 Milliarden Euro ist die Istanbuler Wirtschaft etwa dreimal so groß wie die gesamte Volkswirtschaft des türkischen Nachbarn Bulgarien. Der künftige Istanbuler Bürgermeister verwaltet einen Haushalt von rund sechs Milliarden Euro. Auch das Einkommen der Bürger ist in Istanbul höher als in anderen Teilen der Türkei. Pro Kopf verdient ein Istanbuler rund 10.000 Euro im Jahr. Der türkische Landesdurchschnitt liegt bei knapp 6000 Euro.
Patronage
Der am Bosporus herrschenden politischen Partei eröffnet der Reichtum der Stadt viele Möglichkeiten, Anhänger in Wirtschaft und Gesellschaft mit finanziellen Zuwendungen bei Laune zu halten. Das betrifft öffentliche Ausschreibungen für Infrastrukturprojekte ebenso wie Subventionen der Stadt für Verbände und Organisationen. Imamoğlus Partei, CHP, kritisiert, unter der bisherigen Herrschaft der AKP habe die Stadt viele Millionen Euro an Verbände verteilt, bei denen Verwandte von Staatspräsident Erdoğan das Sagen haben.
Die AKP weist die Korruptionsvorwürfe zurück und verweist auf ihre Leistungen beim Ausbau der Straßen und des öffentlichen Nahverkehrs.
Probleme
So groß wie Istanbul sind auch die Probleme der Stadt. Vor allem der Dauerstau auf den Straßen, die schlechte Luft und die Betonwüsten ohne Baum und Strauch in weiten Teilen des Stadtgebiets machen den Bürgern zu schaffen. Laut dem Lebensqualitätsindex der Personalberatungsfirma Mercer liegt Istanbul auf Platz 130 von 231 Städten weltweit. Die Wohnungsmieten bewegen sich oft auf westeuropäischem Niveau, was für viele Türken kaum zu bezahlen ist.
Politische Rolle
„Wer Istanbul regiert, der regiert die Türkei“, lautet ein oft zitierter Grundsatz der türkischen Politik. Nicht nur die schiere Größe der Stadt und ihre Wirtschaftskraft tragen dazu bei. Istanbul ist auch die kulturelle und mediale Hauptstadt der Türkei. Zudem ist Istanbul die Heimatstadt Erdoğans und der Ort, an dem der heutige Präsident 1994 als Oberbürgermeister seine Karriere begonnen hat. Seit Erdoğans Zeit wurde Istanbul bis zur Kommunalwahl im März von islamisch-konservativen Politikern regiert. Eine erneute Niederlage wäre nicht nur politisch, sondern auch persönlich ein schwerer Schlag für Erdoğan.
Für die Opposition dagegen wäre ein Sieg am Bosporus ein wichtiger Erfolg, der Erdoğans Gegner auf einen landesweiten Machtwechsel hoffen lassen könnte. Bei einem klaren Erfolg von Imamoğlu dürfte die Opposition auf vorgezogene Neuwahlen von Parlament und Präsident dringen. Auch die Spannungen innerhalb der AKP dürften zunehmen. Wenn nach der kürzlichen Niederlage der AKP in der Hauptstadt Ankara auch Istanbul verloren gehe, „dann öffnen sich die Schleusentore“, sagt Türkei-Experte Selim Sazak.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.06.2019)