Die kapitale Fehlkalkulation des Recep Tayyip Erdoğan

Dass Ekrem Imamoğlu, der Kandidat der Opposition, im politisch und wirtschaftlich so wichtigen Istanbul gewonnen hat, ist eine deutliche Erschütterung von Erdoğans Macht.
Dass Ekrem Imamoğlu, der Kandidat der Opposition, im politisch und wirtschaftlich so wichtigen Istanbul gewonnen hat, ist eine deutliche Erschütterung von Erdoğans Macht.(c) APA/AFP/Republican People´s Part (ONUR GUNAL)
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Die Niederlage in Istanbul erschüttert die Macht des türkischen Präsidenten. Nun liegt es an ihm, auf die Opposition zuzugehen. Ob er es schafft, ist fraglich.

Lang galt der türkische Staatschef, Recep Tayyip Erdoğan, als Meister der politischen Strategie. Er arbeitete sich als Bürgermeister der Metropole Istanbul nach oben, kämpfte sich gegen die Widerstände des säkularen Staats an die Macht – anfangs auch mit Unterstützung der EU-Staaten, die in ihm damals einen moderaten Reformer zu erkennen glaubten. Auf seinem Karriereweg gelang es ihm, eine begeisterte Anhängerschaft aufzubauen. Und Widerstand wurde brutal gebrochen. Nun hat sich Erdoğan aber gewaltig verkalkuliert: Der Trick mit der Wahlwiederholung in Istanbul endete für ihn und seine Regierungspartei AKP in einem Fiasko.

Dass Ekrem Imamoğlu, der Kandidat der Opposition, im politisch und wirtschaftlich so wichtigen Istanbul gewonnen hat, ist eine deutliche Erschütterung von Erdoğans Macht. In den großen Städten weht dem Präsidenten mittlerweile ein eisiger Wind entgegen. Sein autoritärerer Führungsstil und die drückende Wirtschafts- und Währungskrise haben viele Menschen enttäuscht. Erdoğan findet keine Lösung für die ökonomische Krise. In Brandreden angebliche Verschwörungen des Auslands verantwortlich zu machen, um so das eigene Unvermögen zu kaschieren, zieht nicht mehr.

Erdoğans Schlappe an den Wahlurnen zeigt auch: Noch funktionieren demokratische Strukturen. Der völlige Umbau des Landes in eine Autokratie fällt den Mächtigen nicht so leicht, wie sie das gern hätten – trotz ihres eisernen Griffs auf Medien, trotz Massenentlassungen und Verhaftungen. Viele Türken sind nicht bereit, Erdoğan das durchgehen zu lassen. Sie wollen einen anderen Weg.

Für die Opposition bringt ihr Sieg in Istanbul neuen Aufwind. Imamoğlus CHP ist es gelungen, eine breite Front gegen das System Erdoğan aufzustellen. Auch die linke, prokurdische Partei HDP setzte sich für Imamoğlu ein. Diese Allianz ist eigentlich ungewöhnlich, da die CHP in ihrer Geschichte nicht gerade gute Beziehungen zu den Kurden hatte. Auf die Fahnen der sozialdemokratischen CHP war auch stets der türkische Nationalismus geheftet. Ihre Vertreter machten sich für ein hartes Vorgehen gegen die kurdische Untergrundorganisation PKK stark.

Es waren eigentlich Erdoğan und seine islamisch-konservative AKP, die erstmals auf die Kurden zugegangen waren. Doch der Friedensprozess liegt mittlerweile in Scherben. Erdoğan glaubt, mit militärischer Gewalt und mit polizeistaatlichen Methoden gegen die HDP das Problem vom Tisch zu bekommen – eine weitere Fehlkalkulation. Die Anhänger der prokurdischen Partei sind mittlerweile das Zünglein an der Waage, wie die Wahl in Istanbul gezeigt hat.

Freilich: Erdoğan ist nach wie vor Staatschef, dem die neue Verfassung umfangreiche Befugnisse verleiht. Die nächste Präsidentenwahl soll planmäßig erst in rund vier Jahren stattfinden – es sei denn, die AKP verliert die Nerven und ruft schon früher zu den Urnen.

Erdoğan wird weiterhin die außenpolitischen Geschicke der Türkei lenken. Etwa in der Frage Syrien, wo er die Aufständischen in ihrer letzten Rückzugsbasis Idlib unterstützt. Er fährt gegenüber den mehreren Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei einen freundlicheren Kurs als die CHP – freilich auch mit dem Hintergedanken, sie als Anhänger zu gewinnen. Und er will sie in Nordsyrien in Gebieten ansiedeln, aus denen Kurden vertrieben worden sind. Erdoğan wird weiter versuchen, der Nachbarschaft der Regionalmacht Türkei seinen Stempel aufzudrücken.

Die Frage ist, welche innenpolitischen Lehren er aus der Niederlage in Istanbul zieht. Geht er noch stärker als bisher auf Konfrontationskurs, um sich auch mit allen Mitteln die Macht zu sichern? Oder geht er auf die Opposition zu und fährt den Druck auf Medien zurück? Vielleicht versucht er ja sogar, wieder ein positiveres Verhältnis zur prokurdischen HDP zu etablieren. Dazu müssten aber ihre zahlreichen inhaftierten Funktionäre freigelassen werden.

Um die Türkei wieder in ruhigere, demokratischere Bahnen zu lenken, müsste Erdoğan den zweiten Weg wählen. Ob der einst umsichtige Stratege dazu noch willens oder in der Lage ist, ist jedoch mehr als fraglich.

E-Mails an: wieland.schneider@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.06.2019)

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