Coronakrise

Als ein Virus zur Existenzfrage für die EU wurde

Keine Touristen, nur vereinzelt Menschen mit Gesichtsmaske: Das Kolosseum in Rom während der Coronakrise.
Keine Touristen, nur vereinzelt Menschen mit Gesichtsmaske: Das Kolosseum in Rom während der Coronakrise.(c) APA/AFP/ALBERTO PIZZOLI
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Mangelnde Solidarität und nationale Egoismen prägten den Beginn der Pandemie. Die wirtschaftlichen Folgen des Lockdowns sind verheerend.

Wien/Brüssel. Selten in ihrem Leben dürfte sich Ursula von der Leyen so machtlos gefühlt haben wie an jenen historischen Tagen im März 2020. Die Coronakrise hatte Europa mit voller Wucht erreicht und vieles, was auf diesem Kontinent bisher als selbstverständlich gegolten hatte, ausgelöscht. Reflexartig beschlossen einzelne Mitgliedstaaten, mit Brüssel nicht akkordiert, restriktive Maßnahmen im Bereich der Freiheitsrechte und des Grenzverkehrs, um die Ausbreitung der Pandemie zu verlangsamen. Die Kommissionspräsidentin konnte dem nationalen Wettlauf um Ansteckungs- und Todesraten, um Kapazitäten im Gesundheitssystem und Lagerbestände an medizinischem Material nur hilflos zusehen. Einmal mehr wurde Europa von einer Krise kalt erwischt. Und einmal mehr standen nationale Egoismen über der Suche nach Lösungen auf europäischer Ebene. Doch der Reihe nach.

Als Anfang März langsam klar wurde, dass das Virus auch in Europa nicht aufzuhalten war und die Nervosität unter den Staats- und Regierungschefs wuchs, beklagte Italien bereits täglich Hunderte Covid-19-Tote. Medizinische Schutzausrüstung – und insbesondere Atemschutzmasken für Mitarbeiter in den Spitälern – wurden zur Mangelware. Doch Deutschland und Frankreich führten just zu diesem Zeitpunkt Ausfuhrbeschränkungen für die in anderen EU-Ländern so dringend benötigten Produkte ein. Und als Italien mehr Beatmungsgeräte und Ärzte brauchte, schickte erst China Flugzeuge mit Geräten und Personal. Gegenseitige Schuldzuweisungen und wachsendes Unverständnis zwischen den EU-Hauptstädten waren die Folge. Einmal mehr stand Deutschland im Zentrum der Kritik: Als die Not am größten war, beherrschte nationalstaatliches Denken das Handeln von Kanzlerin Angela Merkel, so der Vorwurf aus Rom.

„Das Klima, das zwischen den Staats- und Regierungschefs zu herrschen scheint, und die mangelnde europäische Solidarität stellen eine tödliche Gefahr für die europäische Union dar“, beklagte der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors – und sprach damit vielen aus der Seele.

Denn auch die nationalen Grenzschließungen folgten keiner koordinierten Aktion – obwohl das EU-Vertragswerk eigentlich vorsieht, dass die Mitgliedstaaten des Schengenraums die Kommission von derartigen Maßnahmen vorab in Kenntnis setzen müssen. Ein Wirrwarr an unterschiedlichen Regelungen sorgte für Verunsicherung und kilometerlange Staus.

Stillstand des öffentlichen Lebens

Gewarnt durch die dramatische Entwicklung im südlichen Nachbarland Italien beschloss die österreichische Bundesregierung Mitte März zudem Maßnahmen, die noch wenige Tage zuvor undenkbar gewesen wären (siehe auch Chronologie rechts): Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen, Geschäftsschließungen, Verbote öffentlicher Versammlungen und Kulturveranstaltungen, die Schließung von Schulen und Universitäten; kurz: einen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nie dagewesenen Stillstand des öffentlichen Lebens – und das auf unbestimmte Zeit. Das Ziel: Die Gesundheitssysteme nicht zu überlasten und die Zeit bis zur Entwicklung eines Impfstoffs zu überbrücken. In einigen Ländern, wie Italien, Frankreich und Spanien, die von Beginn an besonders hohe Infektionsraten zu beklagen hatten, galten gar noch restriktivere Maßnahmen. Lediglich in Schweden gibt es bis heute kaum Einschränkungen des öffentlichen Lebens: Die Regierung setzt auf das Prinzip der Herdenimmunität.

Am 24. April vermeldete die Europäische Seuchenkontrollbehörde ECDC schließlich, dass in 20 von 31 beobachteten Ländern der Höhepunkt der Covid-19-Ausbreitung bereits überschritten sei. Die Folgen der Pandemie jedoch sind bis zum heutigen Tag nicht abzusehen. Zum einen, weil die in den meisten EU-Ländern beschlossenen Lockerungen der Ausgangs- und Kontaktsperren eine zweite Infektionswelle nach sich ziehen könnten – und sei es erst nach den heißen Sommermonaten im Herbst.

Zum anderen, weil die ökonomischen Auswirkungen in der gesamten Union verheerend sind. Die EU-Kommission rechnet wegen des zeitweiligen Stillstands der Wirtschaft während der Pandemie mit einer EU-weiten Rezession von 7,4 Prozent alleine in diesem Jahr. Das Gezerre um Hunderte Milliarden Euro schwere Hilfspakete hat bereits begonnen.

Dezember 2019/Jänner 2020

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Wie alles begann

Erste Berichte über eine rätselhafte Lungenkrankheit in der zentralchinesischen Metropole Wuhan machen in Österreich die Runde. Ab Jänner ist klar: Der Erreger gehört zur großen Familie der Coronaviren, die harmlose Erkältungen auslösen können – aber eben auch Sars.

In Tirol werden die ersten beiden heimischen Fälle bekannt. Es handelt sich um zwei in Österreich arbeitende Italiener. Italien ist das bis dato am stärksten betroffene EU-Land und riegelt Städte im Norden ab.

Die österreichische Regierung wird aktiv. Mittlerweile gibt es hierzulande über 140 bestätigte Fälle. Ein Einreisestopp für Personen aus Italien wird verhängt, Unis werden geschlossen, größere Veranstaltungen untersagt.

Die WHO stuft die Verbreitung des Coronavirus als Pandemie ein.

Die Regierung verschärft die angekündigten Maßnahmen massiv. Der Handel wird bis auf lebensnotwendige Branchen gestoppt, Grenzkontrollen werden eingeführt. Das Paznauntal wird unter Quarantäne gestellt.

Die Regierung stellt zur wirtschaftlichen Bewältigung der Krise bis zu vier Milliarden Euro zur Verfügung.

Österreich steht endgültig still: Nun kündigt auch der Flughafen Wien eine Schließung des Regulärbetriebs an. Ausnahmen gibt es lediglich für Frachtflüge und Rückholaktionen des Außenministeriums.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.05.2020)

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