Zuständigkeiten

Die EU-Instrumente für mehr Fairness

EU-Bürger haben die Möglichkeit, sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen.
EU-Bürger haben die Möglichkeit, sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen.(c) REUTERS (DIMITAR DILKOFF)
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Die EU ist je nach Aufgabenfeld unterschiedlich stark aufgestellt, um Verzerrungen zu bekämpfen. Dennoch hat sie mehr Möglichkeiten, als in der breiten Öffentlichkeit bekannt ist, um Unternehmen und Bürger vor unfairen Praktiken zu schützen.

Brüssel/Wien. Für das Image der EU-Institutionen ist die Entfernung eine Katastrophe. Geht auf regionaler Ebene etwas schief, haben die Bürgerinnen und Bürger meist direkte Ansprechpartner wie etwa den Bürgermeister, um unfaire Praktiken zu thematisieren. Auf nationaler Ebene können sie sich in vielen Fällen direkt an die zuständigen Ministerien, Interessenvertretungen oder ein Gericht wenden. Doch wer fährt schon nach Brüssel, um einem empfundenen Unrecht entgegenzuwirken? „Das können sich nur große Unternehmen leisten“, wird gern argumentiert. In Wirklichkeit gibt es zahlreiche Instrumente, die auf europäischer Ebene für Gerechtigkeit im Sinne von Bürgern und kleineren Unternehmen eintreten. Die zuständigen Institutionen – wie etwa die EU-Kommission mit ihren Vertretungsbüros in den Mitgliedstaaten – können im Bedarfsfall vom Heimatland aus kontaktiert werden.

Das stärkste Instrument für Gerechtigkeit hat die EU-Kommission mit ihrer Aufgabe als Wettbewerbsbehörde in der Hand. Sie kann direkt eingreifen, wenn Unternehmen Kartelle bilden, Preise absprechen oder einzelne Mitgliedstaaten versuchen, ihren Betrieben durch Beihilfen einen Vorteil auf dem Binnenmarkt zu verschaffen. Wenn beispielsweise Waschmittel- oder Aufzugshersteller ihre Preise untereinander abklären, greift Brüssel ein.

Die zuständige Generaldirektion ist dabei nicht zimperlich. Sie verhängt auch einmal Milliardenstrafen, wenn Unternehmen versuchen, sich auf Kosten ihrer Kunden einen illegalen Vorteil zu verschaffen. Diese Strafen trafen in der Vergangenheit auch mehrere Großunternehmen wie Google (4,32 Mrd. Euro) wegen Ausnutzung seiner Marktdominanz oder die wichtigsten Lkw-Hersteller (3,8 Mrd. Euro) wegen Absprachen sowie mehrere Bierproduzenten wegen der Bildung eines Kartells (338 Mio. Euro).

Die Wettbewerbsbehörde muss auch eingreifen, wenn Gefahr besteht, dass einzelne Unternehmen oder Branchen stärker von Staaten unterstützt werden als ihre Konkurrenz. Diese Beihilfenkontrolle sorgt zwar für Fairness, steht aber unter ständigem Rechtfertigungszwang. So entwickelte sich in Österreich eine heikle politische Debatte zur Frage, ob die Brüsseler Wettbewerbsbehörde auch die staatlichen Hilfen zur Abfederung der Coronakrise prüfen darf. Laut EU-Vertrag ist sie freilich dazu verpflichtet. Alle Mitgliedstaaten haben vereinbart, neue Beihilfen umgehend der EU-Kommission zu melden. Die Experten in Brüssel müssen danach in jedem Einzelfall untersuchen, ob solche Unterstützungen oder Garantien zu einer Verzerrung des Wettbewerbs führen können. Stellen sie das fest, wird die staatliche Hilfe abgelehnt. Allerdings wurden für die Zeit der Coronakrise zahlreiche Ausnahmen von dem sonst so strengen EU-Beihilferecht beschlossen, um der Wirtschaft in diesen schwierigen Zeiten flexibel und rasch helfen zu können.

Die Kontrolle durch die Wettbewerbshüter betrifft nicht nur europäische Unternehmen. Auch amerikanische oder asiatische Konzerne, die ihre Waren in der EU verkaufen, müssen sich den Regeln unterordnen. Tun sie es nicht, drohen ihnen ebenso hohe Strafen. Die EU-Kommission schreitet auch ein, wenn gefälschte Markenwaren oder Medikamente auf dem Binnenmarkt auftauchen oder wenn importierte Waren nicht den europäischen Konsumenten- und Umweltschutzstandards entsprechen. Sie muss darüber hinaus kontrollieren, ob bei importierten Waren die Steuern und Zölle korrekt eingehoben wurden.

Zahlreiche EU-Gesetze (Richtlinien und Verordnungen) tragen weiters dazu bei, dass es keine Bevorzugungen einzelner Anbieter bei öffentlichen Ausschreibungen geben darf. Das sorgt manchmal auf lokaler Ebene für Unverständnis, weil Betriebe aus dem eigenen Ort nicht automatisch den Auftrag beispielsweise für neue Straßenlaternen oder die Ausstattung eines Kongresszentrums erhalten. Insgesamt sorgte aber gerade diese Regelung dafür, dass Absprachen und Korruption bei öffentlichen Aufträgen in Europa eingedämmt werden konnten. Von fairen Wettbewerbsbedingungen bei öffentlichen Ausschreibungen profitieren letztlich alle Steuerzahler.

Oft wird der EU vorgeworfen, dass sie sich allein auf die Interessen der Unternehmen konzentriere und das Wohl der Arbeitnehmer vernachlässige. Zwar sind die Zuständigkeiten für die meisten Aspekte des Sozialrechts (z. B. Sozialversicherung, Pensionen etc.) bei den Mitgliedstaaten verankert. Dennoch wurden auf EU-Ebene soziale Mindeststandards festgelegt, die für faire Bedingungen auf dem riesigen europäischen Arbeitsmarkt sorgen. Diese Regeln sollen verhindern, dass sich einzelne Unternehmen beispielsweise durch geringeren Gesundheitsschutz oder besonders lange Arbeitszeiten Wettbewerbsvorteile auf Kosten der Arbeitnehmer verschaffen. Zuständig ist die EU-Kommission, die einschreiten muss, wenn beispielsweise europaweite Grenzwerte für die Belastung durch Lärm, Rauch oder Staub am Arbeitsplatz unbeachtet bleiben oder die Arbeitszeit erheblich ausgeweitet wird. Die Mindeststandards legen nämlich auch fest, dass die wöchentliche Arbeitszeit EU-weit nicht mehr als bei 48 Stunden pro Woche betragen darf. Auch gibt es ein Mindestmaß an Schutz für werdende Mütter. Außerdem ist EU-weit festgeschrieben, dass Frauen und Männer für dieselbe Arbeit denselben Lohn erhalten müssen. Da der EU-Vertrag auch die Grundrechtscharta übernommen hat, gilt im gesamten Binnenmarkt zudem ein Streikrecht.

Darüber hinaus wurde in den EU-Regeln festgeschrieben, dass EU-Arbeitnehmer – wo immer sie in der Union arbeiten – nicht gegenüber lokalen Arbeitskräften diskriminiert werden dürfen. Sie müssen Zugang zu gleichen Löhnen und Sozialleistungen erhalten. Das gilt auch für Familienangehörige.

Natürlich geschehen auch in der EU-Kommission wie in jeder Verwaltung Fehler. Oder nationale Gerichte legen EU-Recht nicht korrekt aus. Deshalb gibt es einen Europäischen Gerichtshof, der über eine faire Umsetzung von gemeinsamen europäischen Regeln entscheidet. Ihm ist mit dem Gericht erster Instanz ein eigener Gerichtshof angeschlossen, vor dem jeder EU-Bürger und jedes Unternehmen sein Recht gegenüber EU-Institutionen einklagen kann.

Der EuGH mit Sitz in Luxemburg ist für Klagen der EU-Kommission, einzelner Mitgliedstaaten, europäischer Unternehmen und auch von Einzelpersonen zuständig, wenn diese mit einer Verletzung von EU-Recht konfrontiert sind. Die aus allen 27 Mitgliedstaaten stammenden europäischen Höchstrichter entscheiden nicht nur über Konfliktfälle, sondern sehr oft auch über die Auslegung von EU-Recht. Dies betrifft das Wettbewerbsrecht letztlich genauso wie etwa den Konsumentenschutz oder die Arbeitnehmerrechte. Meist sind es nationale Gerichte, die eine Anfrage zur Auslegung von EU-Recht in speziellen Fällen an den EuGH richten. Konkret betrifft das beispielsweise Fragen, wie das Recht auf Entschädigung von Flugreisenden umzusetzen ist, oder ob Unternehmen ihren Mitarbeiterinnen das Tragen eines islamischen Kopftuchs verbieten können, sowie Fragen zur Auslegung der EU-Datenschutzregeln. Die EuGH-Richter entscheiden so wie die obersten Richter in Nationalstaaten in völliger Unabhängigkeit.

Wenn die EU-Kommission Verfehlungen eines Mitgliedstaats feststellt und es nach einem Dialog mit der jeweiligen Regierung zu keiner Korrektur kommt, kann sie diesen Staat vor dem EuGH verklagen. Auch einzelne Mitgliedstaaten können diesen Rechtsweg gegen andere Partnerländer bestreiten. So entschied der Europäische Gerichtshof 2019 gegen eine Maut auf deutschen Autobahnen, die allein von Ausländern bezahlt werden sollte. Das Verfahren war von Österreich mit Unterstützung der Niederlande angeregt worden.

Bisher ging es hier um Einzelfälle, in denen es in der EU Instrumente für mehr Fairness gibt. Was aber, wenn ein ganzer Staat die Basis der Gerechtigkeit verlässt – wenn er demokratische Grundrechte bricht, die Unabhängigkeit der Gerichte oder die Meinungsfreiheit einschränkt? Für diese Fälle wurde der Artikel 7 des EU-Vertrags geschaffen, der ein Strafverfahren gegen nationale Regierungen vorsieht. Die EU-Kommission, ein Drittel der Mitgliedstaaten und das EU-Parlament können ein solches Verfahren initiieren. Es hat zum Ziel, dass Bürger und Unternehmen in einem Mitgliedstaat vor ungerechtfertigtem staatlichen Einfluss oder Willkür geschützt werden. Am Beispiel der zwei ersten Verfahren gegen Polen und Ungarn wegen vermuteter Verstöße dieser Art zeigten sich allerdings bereits die Schwächen dieses Korrekturmechanismus. Denn ein Mitgliedsland benötigt lediglich einen einzigen Verbündeten in der EU, um die vorgesehenen Sanktionen abzuwehren.

Fühlen sich EU-Bürger durch die nationale Verwaltung in ihrem Heimatland oder durch jene der Europäischen Union ungerecht behandelt, können sie sich auch an den EU-Bürgerbeauftragten wenden. Dieser schreitet zum Beispiel ein, wenn Bürgerinnen oder Bürgern die Anerkennung ihrer Berufsausbildung in einem anderen EU-Land verweigert wird oder wenn sie durch eine mangelnde Umsetzung von EU-Recht in ihrem Heimatland benachteiligt werden. Viele Fälle, mit denen sich der Bürgerbeauftragte in der Vergangenheit beschäftigte, hingen mit der verweigerten Weitergabe von Informationen durch staatliche und durch EU-Stellen zusammen.

Beschwerden und Missstände werden vom Büro des Bürgerbeauftragten in Straßburg aufgegriffen und mit den jeweils zuständigen Stellen in Brüssel und den Mitgliedstaaten abgeklärt. In den meisten Fällen wird dabei eine gemeinsame Lösung gefunden. Gelingt das nicht, kann der Bürgerbeauftragte dem EU-Parlament einen Sonderbericht vorlegen und die Abgeordneten auffordern, politische Maßnahmen zu ergreifen. Sanktionsmöglichkeiten hat der Bürgerbeauftragte selbst keine.

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