Stimmungsbarometer

Was EU-Bürger von Solidarität in Zeiten von Corona halten

(c) APA/AFP/JOHN THYS
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Seit dem Ausbruch der Pandemie untersuchen Forscher die solidarische Stimmungslage in Europa. „Die Presse“ fasst die jüngsten Erkenntnisse für Österreich und die EU zusammen. Fazit: Die Bereitschaft zum Teilen ist zwar vorhanden – aber schwach.

Wien. Was halten EU-Bürger von Solidarität mit ihren europäischen Nachbarn? Die Häufigkeit und Intensität, mit der diese Frage seit einiger Zeit gestellt wird, zeugt vom Wandel, den die Europäische Union im vergangenen Jahrzehnt durchgemacht hat. Wer alte Eurobarometer-Umfragen studiert, die bis in die frühen 1970er-Jahre zurückreichen, stellt bald fest, dass Solidarität im europäischen Kontext zunächst einmal kein Konzept war, dem die Bürger viel Beachtung geschenkt haben: Das Europa des späten 20. Jahrhunderts war überschaubar und sicher und die allermeisten Risken, mit denen sich die Einzelnen konfrontiert sahen, im nationalen Rahmen bewältigbar.

Doch seit dem Überschwappen der großen Finanzkrise von den USA nach Europa im Herbst 2008 ist der Ruf nach europäischem Beistand immer lauter geworden – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Krisen, mit denen sich die Europäer seit damals konfrontiert sehen, auf rein nationaler Ebene nicht gelöst werden können. Migration nach Europa, Coronapandemie, Stabilität der Eurozone überfordern selbst die größten Unionsmitglieder – von den Herausforderungen des Klimawandels ganz zu schweigen.

Der Ruf nach Solidarität ertönt in Brüssel immer lauter. Doch wird er in den Hauptstädten der EU-27 vernommen? Und wie kommt er in den Bevölkerungen an? Die Frage ist insofern heikel, als die gängigen Konzepte der Solidarität, an denen sich Bürger und Politiker orientieren, den Nationalstaat als expliziten Rahmen haben (siehe Artikel rechts). Kein Wunder, geht es bei gelebter Solidarität doch meistens um die Absicherung materieller Risken – was ohne Steuereinnahmen nicht möglich ist. Und die Steuerpolitik ist und bleibt die Domäne der EU-Mitgliedstaaten.

Ist die EU also zur nationalen Eigenbrötlerei verurteilt? Die Coronakrise, die von außen über Europa hereingebrochen ist und nicht zwischen Nord und Süd, Ost und West, Arm und Reich unterschieden hat, liefert eine differenzierte Antwort auf diese Frage. Zu Beginn löste die Pandemie nationale Reflexe aus: Die EU-Mitglieder verschanzten sich hinter ihren nationalen Grenzen und horteten medizinische Schutzausrüstung. Doch nach dieser ersten Schrecksekunde lief die Maschinerie der EU an und der gemeinschaftliche Ansatz zur Krisenbewältigung setzte sich durch – bis am Ende der Beschluss über ein 750 Mrd. Euro schweres, gemeinschaftlich finanziertes Paket zur Unterstützung der durch Covid-19 am schlimmsten betroffenen Regionen und Branchen auf dem Tisch lag. Die Union ließ ihre gebeutelten Mitglieder nicht im Stich.

20.000 Befragte in 13 EU-Staaten

Nachdem die europäische Integration ein demokratisch legitimiertes Projekt ist, stellt sich nun die Frage, inwieweit die EU-Bürger bereit sind, derartige solidarische Maßnahmen mitzutragen. Zwei aktuelle Studien, die im Frühjahr und Sommer 2020 durchgeführt wurden, liefern dazu erste wichtige Erkenntnisse. Die erste, umfassende Untersuchung kommt vom Robert-Schuman-Zentrum des European University Institute (EUI) in Florenz. Gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut YouGov befragten die Studienautoren Lorenzo Cicchi, Philipp Genschel, Anton Hemerijck und Mohamed Nasr im April knapp 20.000 Bürger in 13 EU-Staaten (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien, Polen, Rumänien, Niederlande, Dänemark, Finnland, Schweden, Griechenland, Ungarn und Litauen) zu ihrer Haltung zu EU-weiter Solidarität.

Österreich war zwar nicht Teil des Samples – doch seit dem Ausbruch der Coronakrise hat hierzulande die Universität Wien den Finger am Puls und erfasst im Rahmen des „Austria Corona Panel Project“ die Meinung der Österreicher zu den Herausforderungen der Pandemie. Ein Segment der laufenden Umfrage befasst sich auch mit der Einstellung zu solidarischen Maßnahmen auf EU-Ebene, die Daten dazu wurden von den Forschern Fabian Kalleitner und Licia Bobzien analysiert.

Steuergeld hergeben? Nein

Doch zunächst das gesamteuropäische Panorama. Bei der Frage nach der Bereitschaft zur finanziellen Unterstützung anderer Mitgliedstaaten fiel die Antwort durchwachsen aus: eher Ja in der Theorie, eher Nein in der Praxis. So wollte das vierköpfige Forscherteam zunächst einmal wissen, ob die Befragten prinzipiell dazu bereit wären, dass ihr Staat seine Ressourcen auch für andere EU-Staaten und -Bürger zur Verfügung stellt. Auf einer Skala von null (gar keine Bereitschaft) bis zehn (hundertprozentige Bereitschaft) lag der Durchschnitt der Antworten bei etwas über fünf (siehe Grafik). Dabei zeigte sich eine klare geografische Verteilung der Antworten: EU-Bürger im eher wohlhabenden Norden und Westen der Union waren weniger, die EU-Bürger im weniger wohlhabenden Osten und Süden der EU etwas mehr zu finanzieller Solidarität bereit.

Dieses Bild trübte sich allerdings in dem Moment, in dem es um Steuern ging: Befragt nach der Bereitschaft, das eigene Steuergeld mit den europäischen Nachbarn zu teilen, reagierten die EU-Bürger deutlich frostiger. In keinem der erfassten Mitgliedstaaten gab es eine Mehrheit für das Teilen von Steuereinnahmen – die mit knapp bzw. rund 40 Prozent relativ höchsten Zustimmungsraten gab es in Deutschland, Dänemark, Spanien und Griechenland. Am anderen Ende des Spektrums befanden sich Frankreich, Ungarn und Rumänien, wo rund 70 Prozent der Befragten der Ansicht waren, Steuergeld müsse für die eigenen Landsleute zur Verfügung stehen.

Aber damit nicht genug – die Bereitschaft zum solidarischen Beistand scheint recht eindeutig mit der eigenen Lage zu korrelieren. Soll heißen: Wer davon ausgeht, auf Solidarität der EU angewiesen zu sein, ist ein Fan der Solidarität. Wer hingegen davon ausgeht, keine Unterstützung zu benötigen, ist kein Fan der Solidarität. Zu den stärksten Befürwortern (und Profiteuren in spe) zählen Spanien, Griechenland, Rumänien, Polen und Italien, während sich die Gegner (und Unterstützer wider Willen) vor allem in Finnland, den Niederlanden, Schweden, Dänemark und Deutschland wiederfinden.

Dem Nachbarn helfen? Ja

Eine etwas andere Haltung tritt allerdings zutage, wenn es um Unterstützung für alte europäische Partner und Nachbarn geht – in diesem Fall ist die Hilfsbereitschaft höher. In Schweden sind Dänen und Finnen gemeint, in Polen die Tschechen und Slowaken, in Deutschland Österreich und die Niederlande, in Italien Griechenland und Spanien, in Spanien Italien und Portugal.

Ist damit die Idee einer europäischen Solidarität zum Scheitern verurteilt? Ganz so definitiv ist der Sachverhalt auch wieder nicht. Denn es gibt klare Unterschiede in der Haltung der Befragten, was die Ursachen der Krise anbelangt. Im Falle einer „selbst verschuldeten“ Kalamität – als solche werden beispielsweise die Schuldenkrise oder hohe Arbeitslosigkeit gesehen – ist die Ablehnung hoch. Bei einer unverschuldeten Krise wie Covid-19 zeigten sich die Befragten offener für solidarische Maßnahmen. Die Ausnahme von dieser Daumenregel ist der (unverschuldete) Ansturm von Migranten – hier endete bei den allermeisten Befragten die Solidaritätsbereitschaft.

Wenn schon Solidarität, dann tendenziell eher zentral verwaltet und institutionalisiert – auch diese Präferenz kam im Zuge der Studie heraus. In allen 13 untersuchten Mitgliedstaaten war die klare Mehrheit dafür, dass die Verwaltung der Solidarität in den Händen der EU liegen soll. Und zwar unabhängig davon, um welche Krise es sich handelt. Doch wissen die EU-Bürger überhaupt, worum es bei europäischer Solidarität konkret geht? Die Erkenntnisse der österreichischen Studie lassen leise Zweifel an dieser Grundprämisse aufkommen. Kalleitner und Bobzien befragten im Mai, Juni und August rund 1250 Österreicher nach ihren Einstellungen zu unterschiedlichen Finanzierungsvorschlägen für die solidarische Bekämpfung von Covid-19 (siehe Grafik unten). In der Sache fielen die Antworten erwartungsgemäß aus: freiwillige (Sach-)Spenden wurden eher bevorzugt, gemeinsame Schulden und höhere EU-Mitgliedsbeiträge eher abgelehnt. So weit, so eindeutig.

Solidarisch sein? Jein

Doch die genauere Beschäftigung mit den Daten lässt den Verdacht aufkeimen, dass die österreichischen Befragten ihre Präferenzen eher defensiv geäußert haben und sich ansonsten stark von den tagesaktuellen Ereignissen treiben ließen (siehe Interview unten). So lässt sich die Tatsache, dass eine für derartige Umfragen ungewöhnlich hohe Zahl von Befragten entweder die Antwort verweigert oder sich nicht festlegen wollte (bzw. konnte) und auf die Fragen mit „teils-teils“ geantwortet hat als indirektes Indiz dafür interpretieren, dass die Komplexität der aktuellen Solidaritätsproblematik den Wissensstand der Durchschnittsbürger übersteigt. Aus derselben Perspektive betrachtet, erscheint die in der EUI-Studie festgestellte Mittelwert-Präferenz bei der Frage nach der Bereitschaft zum Teilen von Ressourcen in einem etwas anderen Licht.

Und dass Entscheidungen der Politiker bei Fragen der Solidarität eine Rolle spielen, wird in Österreich anhand der Zustimmung zu einem EU-Fonds zur gemeinsamen Kreditvergabe deutlich. Zwischen Mai und August stieg sie nämlich um rund zehn Prozentpunkte – und just in dieser Zeit wurde auch die Verhandlung über einen Coronafonds der EU erfolgreich zu Ende geführt.

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