Pro und Contra

Braucht die EU mehr Solidarität?

Die Flüchtlings- und Migrationskrise von 2015 zeigte in aller Deutlichkeit, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf die Frage nach einer fairen Lastenteilung im Umgang mit den Neuankömmlingen keine Antwort wissen.
Die Flüchtlings- und Migrationskrise von 2015 zeigte in aller Deutlichkeit, dass die Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf die Frage nach einer fairen Lastenteilung im Umgang mit den Neuankömmlingen keine Antwort wissen.(c) REUTERS (GUGLIELMO MANGIAPANE)
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Pro: Mehr Solidarität stärkt alle EU-Länder – auch jene, die für andere einspringen. Contra: Die Europäische Union gleicht einer Kette, die nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied.

Ja. Die EU-Bevölkerung ist solidarischer als die Politik. Die Verpflichtung, sich gegenseitig zu helfen, ist Teil der europäischen Verträge. Sie muss endlich wieder mit Leben erfüllt werden.

von Wolfgang Böhm

Sie gingen zu Tausenden in ganz Europa auf die Straße. Nach der islamistischen Anschlagserie in Paris 2015, die sich insbesondere gegen die Satirezeitung „Charlie Hebdo“ gerichtet hatte, demonstrierte die europäische Öffentlichkeit Einigkeit. „Je suis Charlie“, hallte durch die Straßen von Madrid, Berlin, Wien und vieler weiterer Metropolen. Die EU-Innenminister reisten nach Paris, versicherten ebenfalls ihre Solidarität, versprachen einen gestärkten Außengrenzschutz, Zusammenarbeit der Geheimdienste und vieles mehr. Doch was von der Bevölkerung als Selbstverständlichkeit empfunden wurde, gelang den EU-Regierungen nicht ausreichend in der Umsetzung. Den gemeinsamen Grenzschutz behinderten Bedenken wegen möglicher Souveränitätsverlusten, die Zusammenarbeit der Geheimdienste ein unauflösbares gegenseitiges Misstrauen. Der Wunsch der Bevölkerung fand sich zwar im Geist, nicht aber in der Durchsetzungskraft der europäischen Politik wieder.

Dabei wurde die Europäische Union als Solidargemeinschaft konstruiert. In vielen Bereichen funktioniert die gegenseitige Hilfe ausgezeichnet. Zwischen 2014 und 2020 wurden allein 351,8 Milliarden Euro aus dem Gemeinschaftsbudget für die Verbesserung der Lage in ärmeren Regionen zur Verfügung gestellt. Von dieser internen Umverteilung haben in den letzten sechs Jahren Polen, Ungarn, Tschechien, Rumänien, Italien und Spanien überproportional profitiert. Nach dem Beitritt Österreichs 1995 war auch das Burgenland über viele Jahre Gewinner solcher Regionalhilfen. Bis 2014 unterstützte die EU nicht weniger als 120.000 Projekte in diesem Bundesland.

Die Solidargemeinschaft ist längst auch vertraglich verankert. Im Lissabon-Vertrag wurde sie auf Terroranschläge und Naturkatastrophen ausgeweitet. Auch in militärischer Hinsicht gibt es seit damals die Verpflichtung, sich im Falle eines Angriffs auf das Territorium eines Mitgliedslands (je nach verfassungsrechtlichen Voraussetzungen) gegenseitig zu helfen.

Wenngleich die Solidarität durch die Finanz- und Flüchtlingskrise von 2010 und 2015 in Misskredit geraten ist, zeigt sich in der Coronakrise doch wieder, wie essenziell sie ist. Der Grund ist einfach zu erklären: Durch den gemeinsamen Binnenmarkt mit seiner starken Vernetzung und durch die Einführung einer gemeinsamen Währung bilden alle Mitgliedstaaten eine Schicksalsgemeinschaft. Verwerfungen in einem Partnerland haben umgehende Auswirkungen in allen anderen Ländern.

Aus nationalistischen Gründen die Solidarität infrage zu stellen ist deshalb hochriskant. Der gemeinsame Markt ist der Wachstumsmotor, der den Wohlstand in ganz Europa garantiert. Er ist die Motivation, warum es nach wie vor Länder gibt, die dieser Gemeinschaft beitreten wollen.

Solidarität braucht Kontrolle . . .

Nach dem Bankrott des griechischen Staats 2009 gab es dennoch zahlreiche Stimmen, die vor Hilfe für das südeuropäische Land warnten. Warum sollten Länder mit einer verantwortungsbewussten Haushaltspolitik für ein Land haften, dessen Führung fahrlässig mit ihrem Budget umgegangen war? Natürlich war diese Frage berechtigt. Aber nachträglich ist erkennbar, dass die gemeinsam zur Verfügung gestellten Kredite einen wirtschaftlichen Schock für die gesamte Eurozone abgewendet haben. Der Fall Griechenland führte allerdings auch vor Augen, dass Solidarität nur funktioniert, wenn es gleichzeitig eine unabhängige Kontrolle der Fiskalpolitik jedes Mitgliedslands gibt.

Solidarität ist eine Voraussetzung für eine Staatengemeinschaft wie die Europäische Union. Sich ihr aus nationalen Interessen zu versperren ist kurzsichtig. Das wurde auch während der Flüchtlingskrise ab 2015 deutlich. Hier eskalierte die Lage in den hauptbetroffenen Ländern Griechenland und Italien. Da die Solidarität von mehreren Partnerregierungen ausblieb, kam es nicht bloß zu unhaltbaren Zuständen in den beiden Mitgliedstaaten. Es kam auch zu neuen Bruchlinien zwischen Nord- und Südeuropa sowie zwischen Ost- und Westeuropa. Der Schaden war letztlich größer als die erwartbare Belastung für jene Länder, die eine Solidarität verweigerten.

Parallel zum Fall der Schuldenkrise in Griechenland hätte hier mehr Solidarität auch die Schaffung gemeinsamer Kontrollmechanismen beschleunigt. Denn bei einer gegenseitigen Hilfe hätten alle EU-Regierungen deutlich mehr Interesse entwickelt, rasch und effizient einen gemeinsamen Außengrenzschutz und ein gemeinsames Asylsystem an den Außengrenzen aufzubauen.

Die Europäische Union hat bereits viele Krisen erlebt und überstanden. Sie entwickelte sich allerdings nur dann weiter, wenn die Mitgliedstaaten in Zeiten von Umbrüchen Bereitschaft zeigten, enger zusammenzuarbeiten. Das war beispielsweise nach der Ölkrise und den großen Wechselkursschwankungen der 1970er- und 1980er-Jahre durch die Weiterentwicklung des europäischen Binnenmarkts und die Schaffung einer gemeinsamen Währung so. Auch die Erweiterung von 2004 und 2007 war Beispiel einer Solidarität zum Wohl aller Beteiligten. Die westeuropäischen Staaten haben sich am wirtschaftlichen Wiederaufbau der ehemaligen Ostblockstaaten aktiv beteiligt. Osteuropa erlebte eine Phase gesunden Wachstums und einer neuen Stabilität.

. . . und liegt im eigenen Interesse

In der Coronakrise haben die Mitgliedstaaten zuerst versucht, ihre Probleme allein zu lösen. Doch nach und nach wurde klar, dass es auch eine stärkere Zusammenarbeit und ein europäisches Hilfspaket braucht, um Schaden für alle abzuwenden. Solidarität im europäischen Sinne, das belegt auch dieses Beispiel, ist kein Akt naiver Hilfsbereitschaft. Sie ist auch im eigenen Interesse logisch. Auf dem Höhepunkt der Krise wurden für die hauptbetroffenen Länder Intensivbetten in den Nachbarstaaten zur Verfügung gestellt. Patienten aus Frankreich wurden in Deutschland und Österreich behandelt. Polen und weitere Länder schickten Ärzteteams in die überlasteten Krankenhäuser Italiens. Hunderte Menschenleben wurde auf diese Weise gerettet. Im Juli wurde ein gemeinsamer Fonds von 750 Mrd. Euro geschaffen, um den Wiederaufbau zu finanzieren.

Der Vorsitzende der EU-Bischofskonferenz, Kardinal Jean-Claude Hollerich, appelliert, an dieser Solidarität festzuhalten. Sei dies der Fall, werde die Staatengemeinschaft besser als zuvor aus der Krise kommen. „Andernfalls wird sich die Kluft zwischen den reichsten und ärmsten Ländern vergrößern, und ganz Europa wird geschwächt“, so der Luxemburger Erzbischof.

Nein. Migration, Rezession, Weltpolitik: Wenn die Mitgliedstaaten nicht zuerst vor ihrer eigenen Tür kehren und politische Selbstverantwortung kultivieren, bleibt die EU verzwergt.

von Oliver Grimm

Die Leier ist fast so alt wie das Einigungswerk: Die im Norden sind kaltherzige Knauser, die im Süden pflichtvergessene Hallodris. Diese leben auf Kosten jener, was man, je nach Standpunkt, als gerechte Umverteilung oder infame Erpressung bezeichnen darf. Dieses Spiel lässt sich auch innerhalb der Gesellschaft munter fortsetzen: Landwirte sind entweder förderungswürdige Bewahrer unserer gastronomischen Souveränität oder Subventionskassierer ohne Genierer. Die Regionalsubventionen dienen entweder der Bewahrung unserer kulturellen Einzigartigkeiten, oder sie ermöglichen politisch bestens vernetzten neuzeitlichen Landesfürsten, ihre Untertanen mit Brot, Spielen und Kreisverkehren bei Laune zu halten. Und so weiter und so fort.

Lange Zeit war dieses polit-ethische Pingpong zwischen Anhängern der Solidarität und Befürwortern der Eigenverantwortung mäßig zweckdienlich, aber zumindest nicht wirklich politisch gefährlich. Das hat sich vor einem Jahrzehnt geändert. Denn erstmals steht die Union vor existenziellen Krisen. Migrationsansturm, Wirtschaftsrezession, der schleichende Verlust an Wettbewerbsfähigkeit und Erfindungsreichtum in der Konkurrenz mit den Weltmächten aus Übersee: Diese Herausforderungen lassen sich nicht mehr wie bisher dadurch unter den Teppich kehren, dass man im Rahmen des Unionsbudgets ein paar Milliarden hierhin oder dorthin verschiebt. Bei all diesen Krisen zeigt sich: Die EU gleicht einer Kette, die nur so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Und wo man auch hinsieht: Allerorten scheinen nationale Regierungen kein Problem damit zu haben, sich selbst zu schwächen – und damit auch die gesamte Union.

Das Paradebeispiel dafür ist Griechenlands Haushalts-Harakiri, welches die Eurokrise verursachte. Jahrelang schummelten sich griechische Regierungen sämtlicher Lager über die Vorgaben des Stabilitäts- und Wachstumspakts hinweg, um ihren Wählern ein Leben jenseits der leistbaren Verhältnisse zu ermöglichen. Der Kater nach dem Schuldenrausch währt nach mehr als einem Jahrzehnt noch immer. Griechenlands Jugend hat weiterhin, trotz aller seither eingeführten Reformen, die schlechtesten Chancen in der gesamten Union auf einträgliche berufliche Karrieren.

Doch jenseits des sozialen Leides, welches der Haushaltscrash Athens samt beinahe erfolgtem Rauswurf aus der Eurozone im Sommer 2015 sowie die harschen Einschnitte ins Staatswesen verursacht haben, hat diese Episode selbstvergessener Verantwortungslosigkeit die Eurozone nachhaltig beschädigt. Allen Lippenbekenntnissen zum Trotz geht bei der viel beschworenen Bankenunion nichts weiter. Kein Wunder: Politiker aus den nördlichen Mitgliedstaaten müssten über enormen Mut verfügen (oder amtsmüde sein), wenn sie einer gemeinsamen Einlagensicherung zustimmten. Das ist fatal, denn in einer Währungsunion bleibt keine lokale Bankenkrise, bei der die Sparer ihre Konten in Panik leeren, auf den jeweiligen Mitgliedstaat beschränkt. Stichwort: Schneeballeffekt. Dafür keine gemeinsame Vorsorge treffen zu können, weil die politischen Widerstände in Erinnerung an die düsteren Jahre 2010–2015 zu groß sind, ist die vermutlich am schwersten wiegende Folge der Griechenland-Krise.

Verdorbene Extrawürste

Mehr Eigenverantwortung ist auch in der Außenpolitik der Union dringend erforderlich. Wobei man semantisch präziser fassend von der Zwillingsschwester der Eigenverantwortung reden muss, dem Verantwortungsbewusstsein. Man kann das derzeit sehr deutlich an der blockierten Sanktionspolitik gegenüber den Regimen in Belarus und der Türkei ablesen. Auch wenn alle beteiligten Regierungen dies abstreiten, liegt die Lage klar vor Augen: Zypern blockiert Sanktionen gegen das zusehends brutale Regime in Minsk, weil allen voran Deutschland keine neuen Sanktionen gegen die Türkei wegen deren illegaler Öl- und Gasbohrungen in zyprischen Hoheitsgewässern wagen möchte. Weil Sanktionen die Einstimmigkeit der 27 Regierungen erfordern, blockiert sich die EU vor aller Weltöffentlichkeit Augen. Die Vorstellung, man könne dies durch eine Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Sanktionspolitik beheben, beseelt auch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Sie schlug dies in ihrer Rede zur Lage der Union so vor, wie es schon ihr Vorgänger Jean-Claude Juncker fast fünf Jahre lang getan hatte.

Doch würde dies das Problem der mangelnden Selbstverantwortung lösen? Kaum, meint Jeremy Shapiro vom Thinktank European Council on Foreign Relations. „Langfristig wird es die Solidarität nicht stärken, wenn man Mitgliedstaaten in Fragen, die für sie wichtig sind, einfach überrollt.“ Er schlägt einen anderen Zugang vor: „Besser ist es, allen EU-Mitgliedstaaten das Gefühl zu geben, dass Europa ihre erste Verteidigungslinie in einem Bereich ist, der ihnen wirklich am Herzen liegt – und ein Gefühl dafür, dass sie etwas Wichtiges verlieren werden, wenn sie die EU in anderen Bereichen schwächen, die ihnen weniger bedeuten.“

Eine Einsicht, die sich auch auf die härteste aller politischen Nüsse anwenden lässt, nämlich die Migrations- und Asylpolitik. Die Vorstellung, Griechenland und Italien würden auf unsolidarische Weise vom Rest der Union in ihrer Rolle als Staaten der ersten Ankunft für fast alle Flüchtlinge und Migranten im Stich gelassen, ist nachweislich falsch. Allein seit der Eskalation des Krisenjahres 2015 hat Griechenland mehr als zwei Milliarden Euro aus dem Unionshaushalt bekommen, um sein Asylwesen zu modernisieren. Ob das geschehen ist, darf man angesichts der Zustände auf den griechischen Inseln bezweifeln. Auch Italien übt sich im Weiterwinken der vielen Migranten, die im Norden und Westen Europas auf ein besseres Leben hoffen.

Eigenverantwortlich ist das nicht. Und es schadet beiden Ländern letztlich enorm. Denn ihre Versäumnisse in der ordentlichen Abwicklung von Asylverfahren und Abschiebung abgelehnter Bewerber sind Wasser auf die Mühlen von Regierungen wie jenen Ungarns und Polens, die sich gegen jegliche solidarische Aufteilung anerkannter Flüchtlinge auf alle Mitgliedstaaten stemmen.

Migration, Asyl, Bankenunion, Weltpolitik und, kraft Corona, die Verteilung und Nutzung der Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds: Solang die einen ihre Hausaufgaben nicht machen, können es die anderen stets ablehnen, solidarisch zu sein. Ohne diesen Zusammenhalt jedoch bleibt die EU ein Riese auf tönernen Beinen – und nicht die sanfte Supermacht, die sie sein könnte.

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