Technokratie

Über (fast) jeden politischen Zweifel erhaben: EuGH und EZB

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FILE PHOTO: Outbreak of the coronavirus disease (COVID-19) in FrankfurtREUTERS
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Beide Institutionen arbeiten an der Schnittstelle zwischen vitalen nationalen und europäischen Interessen. Doch im Zuge der Krisen der vergangenen Jahre sind auch das Höchstgericht der EU und die Zentralbank der Eurozone ins Visier der Nationalpopulisten geraten.

Frankfurt/Luxemburg. Wie viel Politik verträgt eine Bürokratie? Im Fall der EU ist diese Frage alles andere als einfach zu beantworten, denn die Europäische Kommission ist bekanntlich ein Zwitterwesen aus Verwaltungsapparat, Gesetzgeber und Exekutivorgan. Ist in den Anfängen des europäischen Einigungsprozesses der bürokratische Aspekt im Vordergrund gestanden, so haben sich die Gewichte in den vergangenen Jahren Richtung Politik verschoben. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hat sich bekanntlich für eine „politische Kommission“ ausgesprochen, seine Nachfolgerin Ursula von der Leyen für eine „geopolitische“ Brüsseler Behörde.

Heikel an diesem Wunsch ist, dass politisches Denken und Handeln Parteinahme implizieren – was die Position der Kommission als unparteiische Verwalterin des Binnenmarkts schwächt. Im Zuge der Eurokrise wurde der Brüsseler Behörde von den in Schieflage geratenen südeuropäischen Mitgliedstaaten immer wieder vorgeworfen, die Handlangerin der Nettozahler zu sein. Auch in der Flüchtlingskrise geriet die Kommission ins Kreuzfeuer der Kritik – diesmal seitens der Mittelosteuropäer, die das Brüsseler Bemühen, die Neuankömmlinge mittels Quote auf alle Mitgliedstaaten zu verteilen, als vorauseilenden Gehorsam gegenüber Deutschland interpretierten.

Neben der Kommission arbeiten zwei weitere Institutionen an der heiklen Schnittstelle zwischen nationalen und europäischen Interessen: der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg und die Europäische Zentralbank (EZB) in Frankfurt – wobei Letztere nur die Mitglieder der Eurozone tangiert. Beide Behörden spielen, salopp formuliert, in der Champions League der Technokratie, beide sind streng zu Überparteilichkeit und objektiver Entscheidungsfindung verpflichtet. Dass die Ideale nicht hundertprozentig der Realität entsprechen, liegt auf der Hand. Kritiker des EuGH weisen immer wieder darauf hin, dass die Luxemburger Höchstrichter schrittweise den Geltungsbereich ihrer Urteile ausweiten und die Kompetenzen der Mitgliedstaaten beschneiden. Dass die Urteile des Höchstgerichts der EU darauf abzielen, die Integrität des EU-Binnenmarkts zu wahren, liegt allerdings auf der Hand. Die Kritik an der EZB kam bis dato primär aus dem Süden der Währungsunion und richtete sich gegen das Mandat der Zentralbank. Die EZB ist ausschließlich zur Wahrung der Preisstabilität verpflichtet, und nicht auch (anders als die US-Notenbank Fed) zur Stimulierung des Arbeitsmarkts.

Karlsruhe gegen Luxemburg

Das EZB-Mandat spiegelt den Einfluss der deutschen Bundesbank auf die Geldpolitik der Eurozone wider. Insofern ist es eine Ironie des Schicksals, dass die bis dato heftigste Attacke auf die Integrität der EZB in Deutschland lanciert wurde: und zwar maßgeblich von der rechtspopulistischen Alternative für Deutschland (AfD). Die Hauptkritik der AfD an der Notenbank der Eurozone: Die EZB habe durch das Programm zum Kauf nationaler Anleihen, dessen Zweck es war, die von der Eurokrise besonders hart betroffenen Länder vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren, ihr Mandat verletzt.

Die Kritik der deutschen Populisten wäre vom Frankfurter EZB-Turm wirkungslos abgeprallt, hätte nicht das deutsche Bundesverfassungsgericht Anfang Mai geurteilt, dass die EZB es verabsäumt habe, ihr Anleihekaufprogramm adäquat zu begründen.
Dieses Urteil wurde von Beobachtern als Schuss vor den Bug des EuGH interpretiert – die Karlsruher Richter warfen ihren Luxemburger Kollegen nämlich vor, ihre Kompetenzen überschritten zu haben, denn der EuGH hatte davor die Anleihekäufe als rechtskonform eingestuft. Der Konflikt hatte das Potenzial dazu, das Rechtsgefüge der Eurozone zu sprengen, doch er wurde mittlerweile durch eine entsprechende Begründung seitens der Bank entschärft.

Ausgestanden sind die Probleme damit allerdings nicht. Denn der Konflikt zwischen Karlsruhe und Luxemburg wurde besonders aufmerksam in Warschau verfolgt. Polens nationalpopulistische Regierungspartei PiS versucht seit ihrer Machtübernahme vor fünf Jahren, die Justiz des Landes unter ihre politische Kontrolle zu bringen – und damit die demokratische Gewaltentrennung aufzuheben. Warschau musste bereits bei mehreren Rechtsstreitigkeiten in Luxemburg den Kürzeren ziehen, weitere Verfahren gegen die Gängelung der polnischen Richter sind anhängig. (la)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.10.2020)

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