Die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union wird durch die Möglichkeit eines nationalen Vetos stark eingeschränkt. Manche Mitglieder nützen dies weidlich aus. Das zeigte sicht unter anderem im Umgang mit China, Venezuela, Belarus und der Türkei.
Schon bald nach den umstrittenen Präsidentenwahlen in Belarus und der darauffolgenden brutalen Unterdrückung der Bevölkerung war EU-Ratspräsident Charles Michel zur Stelle und drohte mit Sanktionen. Es dauerte aber dann fünf Wochen, bis die EU-Außenminister darüber berieten – und diese gaben rasch das Vorhaben wieder auf. Denn ein Land, nämlich Zypern, hatte ein Veto eingelegt. Nikosia wollte als Gegenleistung für sein Ja, dass sich die EU zu einem harten Kurs gegen die Türkei verpflichtet, mit der Zypern im Gasstreit liegt. Zudem unterhält die Familie Lukaschenko enge Beziehungen zu Wirtschaftsunternehmen auf Zypern, und diese haben wohl einigen Druck auf Nikosia ausgeübt. Nach langem Ringen wurden dann beim Gipfel am 2. Oktober doch noch Sanktionen gegen Belarus beschlossen.
Dass es so schwierig ist, gerade bei außenpolitischen Themen schnell eine gemeinsame Linie zu finden, liegt daran, dass die Außenpolitik zu jenen Bereichen gehört, in denen die EU nur einstimmige Beschlüsse fällen kann. Das heißt, jeder einzelne der nunmehr 27 EU-Staaten hat ein Vetorecht. Und dieses nützen einige Mitgliedstaaten seit Jahren weidlich aus, um sich Vorteile zu verschaffen oder Freunde zu schützen.
Naheverhältnis zu Autokraten
Zypern ist da nur der letzte Fall. Einige Beispiele? Für großen Ärger sorgte 2017 das Verhalten Athens. Brüssel wollte bei der UNO – wie schon öfters – eine harsche Stellungnahme zu Pekings Umgang mit Dissidenten und Aktivisten formulieren. Da legte plötzlich Athen ein Veto ein, China blieb verschont und die EU blamierte sich. Offenbar habe Peking den Griechen mit wirtschaftlichen Folgen gedroht, mutmaßten Diplomaten.
Anfang 2019 wollte die EU zur Staatskrise in Venezuela eine Erklärung verabschieden, in letzter Minute wurde diese torpediert, und zwar von Italien, das mit den Formulierungen nicht einverstanden war. Dahinter stand die damals in Rom mitregierende Fünf-Sterne-Bewegung, die Sympathien für Venezuelas Staatschef Maduro hegte. Das EU-Parlament konnte dagegen ohne Probleme Maduros Konkurrenten Guaido anerkennen – per Mehrheitsentscheid.
Etwa zur gleichen Zeit fanden Vorbereitungstreffen von Vertretern der EU und der Arabischen Liga für einen gemeinsamen Gipfel in Ägypten statt. In der geplanten Abschlusserklärung sollte auch die Zuwanderung aus arabischen Staaten in die EU erwähnt werden. Doch Ungarns Regierung wehrte sich dagegen, wollte um keinen Preis ein Wort über Migration in dem Papier sehen und drohte mit Veto. Am Ende verzichtete man ganz auf eine Erklärung, da ein Abschlussdokument ohne das Thema Migration peinlich gewesen wäre.
Eine Änderung dieser Einstimmigkeitsregel hin zu einer qualifizierten Mehrheit würde das Problem der lähmenden Vetomöglichkeiten sicherlich beheben. Möglich wäre das aber nur, wenn der Rat dies beschließt – und zwar einstimmig. Doch nicht jeder EU-Staat möchte dies. Die großen Länder wie Frankreich und Deutschland sind dafür. Sie erhoffen sich mehr Schlagkraft. Der deutsche Außenminister, Heiko Maas, der „den Fluch der Einstimmigkeit“ gern beenden möchte, sagte: „Mehrheitsentscheidungen schützen uns davor, dass andere Mächte nur ein Mitgliedsland herauskaufen müssten, damit alles blockiert ist.“
Von den mittleren und kleineren Staaten ist lediglich Belgien voll dafür, die anderen halten sich in der Debatte mehr oder weniger vornehm zurück. Ihre Argumente sind unterschiedlich: Einige befürchten, dass ihre Interessen durch größere Staaten mit mehr Stimmkraft ignoriert würden. Andere sind grundsätzlich gegen jede Abgabe von nationalstaatlichen Kompetenzen, wollen unabhängig von Brüssel Abkommen abschließen.
Und die Führung? Jean-Claude Juncker machte in seiner Amtszeit als Kommissionschef mehrere Anläufe, um das Prinzip zu ändern – alle vergeblich. Zuletzt hat sich die derzeitige Präsidentin, Ursula von der Leyen, für einen Kompromiss starkgemacht: Wo es um Menschenrechtsverletzungen und Sanktionen gehe, solle das Einstimmigkeitsprinzip aufgehoben werden. (g.b.)