Pro und Contra Vetorecht

Braucht es nationale Vetos?

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Ja

Die Gründe dafür, dass Europa keine weltpolitische Ordnungsmacht ist und sich selbst schwächt, liegen jenseits der Frage, wie über diese Belange abgestimmt wird. Das Vetorecht zwingt hingegen alle zu Kompromissen, denen sich keiner nachher entziehen kann.

Von Oliver Grimm

Schön war das nicht anzuschauen: Während aus Minsk und anderen belarussischen Städten Tag für Tag die Bilder von immer brutaleren Prügelorgien und Verhaftungswellen durch die Sicherheitskräfte des Regimes von Langzeitautokrat Alexander Lukaschenko über die Bildschirme europäischer Nachrichtenkonsumenten huschten, verstrickten sich die Außenministerien der 27 Mitgliedstaaten in end- und beinahe ausweglosen Debatten darüber, wie und wann die Europäische Union Sanktionen gegen drei Dutzend Handlanger von Lukaschenkos Machtapparat verfügen sollte. Zwei Monate nach der schamlos gefälschten Wiederwahl Lukaschenkos zum Präsidenten der früheren Sowjetrepublik wusste man im Auswärtigen Dienst der Union in Brüssel zwar genau, welche Beamten des belarussischen Apparats man mit Einreiseverboten und dem Einfrieren ihrer etwaigen europäischen Vermögenswerte dafür bestrafen wollte, dass sie die Präsidentenwahl gefälscht und danach die friedliche Opposition niederzuschlagen versucht hatten. Doch die nötige Einstimmigkeit im Rat der Außenminister wollte und wollte sich nicht einstellen. Zypern sagte beharrlich Nein, solang es nicht zugleich auch EU-Sanktionen gegen die Türkei gebe, weil die völkerrechtswidrig in zyprischen Hoheitsgewässern nach Öl und Gas sucht. Es bedurfte eines langen Arbeitsessens während des Europäischen Rats zu Beginn des Monats Oktober (und des mehr oder weniger sanften Drucks auf Präsident Nikos Anastasiadis), ehe die 27 doch auf eine Linie kamen. Tags darauf traten die Sanktionen in Kraft.

„Weil es Frankreich ist“

Zwei Fragen knüpfen sich an diese unerfreuliche Episode europäischer Außenpolitik. Erstens: War das Einstimmigkeitsprinzip in Fragen der Außenpolitik der wahre Grund dafür, dass diese Sanktionen so lang blockiert waren? Zweitens: Haben sie den gewünschten Effekt erzielt?

Beide Fragen muss man verneinen. Zyperns Regierung hat stets betont, die Sanktionen gegen Lukanschenkos Handlanger in der Sache vollinhaltlich zu unterstützen. Doch sie argumentierte, dass man nicht gleichzeitig einen Despoten strafen, einen anderen jedoch – nämlich den türkischen Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan – verschonen könne. Dieses Argument steht natürlich auf tönernen Füßen. Denn diese beiden Probleme sind nicht wesensgleich. Das lange Zögern der EU hatte zur Folge, dass Lukaschenko – tatkräftig vom Kreml und Russlands Präsidenten, Wladimir Putin, unterstützt – die mutige belarussische Opposition binnen weniger Wochen brutal dezimieren konnte. Demgegenüber sind die türkischen Muskelspiele gegenüber Zypern in der Ägäis unverfroren, und sie müssen gleichfalls sanktioniert werden. Unmittelbar lebensbedrohend sind sie nicht.

Aber abgesehen von dieser argumentativen Schwäche der zyprischen Position war es verständlich, dass sich dieses kleine Land an sein Vetorecht klammerte. Wie sonst sollte es den Rest der Union dazu bewegen, sich gegen den feindseligen riesigen türkischen Nachbarn zu formieren, der noch dazu fast die Hälfte des eigenen Territoriums seit Jahrzehnten ebenfalls völkerrechtswidrig besetzt hält? Das Vetorecht ist eine Art Lebensversicherung, vor allem für die kleinen Mitgliedstaaten. Sie mussten zudem in der jüngeren Vergangenheit zu oft miterleben, wie die Europäische Kommission – trotz aller Bekenntnisse zu Neutralität und peinlich genauer Rechtsanwendung – sehr wohl mit zweierlei Maß misst. „Weil es Frankreich ist“, antwortete Jean-Claude Juncker, der damalige Präsident der Europäischen Kommission, vor einigen Jahren auf die Frage, wieso seine Kommission in ihrer Rolle der Hüterin der Verträge das überschießende Staatsdefizit unter Präsident François Hollande kommentarlos akzeptierte. „Weil es Zypern ist“ – so eine Vorzugsbehandlung kann sich ein kleines Mitgliedsland niemals erwarten.

Doch die die Antwort auf die zweite Frage – hatten die EU-Sanktionen gegen Lukaschenko Erfolg – führt näher an das eigentliche Problem mit der Außenpolitik und dem Vetorecht heran. Denn natürlich (und leider, muss man sagen) hat sich das belarussische Regime nicht von den Reiseverboten und Vermögenseinfrierungen beeindrucken lassen. Die Repression setzt sich ungehindert fort. Mit Sanktionen, zeigt sich, kann man Diktatoren nicht zum Einlenken bringen.

Eine wirksame gemeinsame europäischen Sicherheits- und Außenpolitik hingegen würde es erfordern, dass sich alle 27 in einigen grundsätzlichen Fragen einig werden. Die wichtigste wäre diese: Möchte Europa weltpolitisch Macht haben und einsetzen? Oder will es nur gleichsam als Schiedsrichter am Spielfeldrand das Geschehen kommentieren, mit Appellen, Berichten und, in extremis, punktuellen Sanktiönchen, die kaum wehtun? Ohne Macht kein Handeln, doch Macht ist auf der Weltbühne etwas, mit dem in der Union nur Frankreich, das einzige der EU verbliebene Mitglied des Weltsicherheitsrats und die einzige Nuklearmacht, kein Problem hat.

Die Macht des Konsenses

Jene „Weltpolitikfähigkeit“, von der Juncker am Ende seiner politischen Laufbahn geschwärmt hat, setzt Einigkeit darüber voraus, dass man nicht nur mit dem Zuckerbrot, sondern auch mit der Peitsche durch das Weltgeschehen wandern muss. Doch diese Einigkeit existiert nicht. Man muss sich nur ansehen, wie diametral sich der Umgang Frankreichs und Deutschlands mit dem türkischen Regime gegenüberstehen: Paris schickt die Marine ins Mittelmeer, um Ankara von seinen Provokationen gegenüber Griechenland und Zypern abzubringen – Deutschland hingegen mahnende Worte.

Kurzum: Je existenziell wichtiger eine politische Frage für die EU ist, desto größer ist die Bedeutung des Konsenses, der darüber bestehen muss. Das gilt für die Außenpolitik ebenso wie für die Besteuerung von Konzernen. Statt also sich in unrealistischen Fantasien über die Brückenklausel im EU-Vertrag zur Einführung der qualifizierten Mehrheit in diesen Domänen zu verlieren, sollte die Kommission eher klare Argumente dafür erarbeiten, wieso die EU hier geeint vorgehen muss.

Nein

In einer Union mit 27 Mitgliedstaaten ist das Festhalten an nationalen Vetos kontraproduktiv. Es verlangsamt den Entscheidungsprozess und diskreditiert das gemeinsame Vorgehen. Mehrheitsentscheidungen brauchen allerdings eine Akzeptanz, die derzeit nicht vorhanden ist.

von Wolfgang Böhm

Warum hat das Europaparlament mit Brüssel und Straßburg zwei Standorte für Sitzungen, obwohl das aller finanzieller und ökologischer Vernunft widerspricht? Weil Frankreich eine Zusammenlegung nach Brüssel – für das ein einstimmiger Beschluss notwendig wäre – durch ein Veto verhindert. Warum gibt es keine EU-weite Digitalsteuer, obwohl Internetkonzerne wie Google oder Facebook in Europa ohne Beitrag für die Allgemeinheit ihren Geschäften nachgehen? Weil Irland um seinen Standort für derartige Betriebe bangt.

Warum kommen Entscheidungen über Menschenrechtsverletzungen in China oder rasche Sanktionen gegen eine Wahlfälschung in Belarus nicht zustande? Weil einzelstaatliche Interessen, wie zuletzt jene von Zypern, dagegen gesprochen haben. Das sind nur einige Beispiele, die aufzeigen, wie Vetos die Europäische Union lähmen.

Die EU ist allein durch ihre wirtschaftliche Dominanz eine der großen Weltmächte. Sie bringt diese Kraft allerdings nicht auf den Boden, weil sie sich selbst auf diese Weise hemmt. In außenpolitischen und sicherheitspolitischen Entscheidungen kann jedes Mitgliedsland ein gemeinsames Vorgehen behindern. Alle Beschlüsse müssen einstimmig getroffen werden. Das öffnet nicht nur die Option für eine Junktimierung von Entscheidungen mit ganz anderen nationalen Interessen. Es macht die EU träge – mit fatalen Folgen. „Wenn wir nicht schneller, klarer und mutiger bei außenpolitischen Entscheidungen werden, dürfen wir uns nicht wundern, dass wir bei Konflikten in unserer Nachbarschaft machtlos aussehen“, kritisierte der Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, Anfang dieses Jahres. Die EU müsse lernen, konsequent mit einer Stimme zu sprechen. „Solang wir die Kakofonie von 27 möglichen Vetos bei jeder außenpolitischen Entscheidung haben, würde ich als Schwabe sagen: Da ist Hopfen und Malz verloren.“

„Dunkelkammer“ der Einstimmigkeit

Die Außen- und Sicherheitspolitik ist neben der Steuerpolitik einer der wichtigsten Politikbereiche der EU, bei dem bei jedem Beschluss Einstimmigkeit notwendig ist. Weitere Bereiche sind Bürgerrechte, der EU-Haushalt und Fragen der sozialen Sicherheit, die im Einzelfall zwar zu langen Verhandlungen, nicht aber zu einer Lähmung der Union beitragen.

In zentralen Politikfeldern führt die Vetomöglichkeit jedes Landes dazu, dass die EU nicht flexibel reagieren kann. Dabei konkurriert sie mit Ländern wie China oder Russland, die insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik Entscheidungen abseits jeder demokratischen Kontrolle über Nacht treffen können. Europa, so der ehemalige Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, sei in der „Dunkelkammer“ der Einstimmigkeit gefangen. Das betrifft auch das gemeinsame Vorgehen in den Vereinten Nationen oder weiteren internationalen Organisationen. Juncker kritisierte dies anhand eines konkreten Beispiels: Es gehe nicht an, dass die EU sich in der UN-Menschenrechtskommission nicht zu Menschenrechtsverletzungen in China äußern könne, weil ein einzelnes Mitgliedsland dies verhindere.

Die EU schwächt sich auch in Fragen des internationalen Handels oder bei einem internationalen Vorgehen gegen Steuerbetrug selbst, wenn es ihr nicht gelingt, mit einer Stimme aufzutreten. So verständlich manche Vorbehalte und nationalen Befindlichkeiten sein mögen: Die Möglichkeit des Vetos führt zur völligen Verzerrung der gemeinsamen Interessen und erschwert ein glaubwürdiges Auftreten. Seit 2010 bauen die EU-Mitgliedstaaten einen gemeinsamen Auswärtigen Dienst (EAD) mit mittlerweile 145 Delegationen in Drittstaaten auf. Die Diplomaten kommen aus allen Mitgliedstaaten. Die Aufgabe des EAD ist es, weltweit die Interessen der 27 Mitgliedstaaten zu vertreten. Doch ihre Aufgabe wird durch das Störfeuer einzelner Länder allzu oft behindert. Geht es um eine gemeinsame Linie gegenüber Russland, um eine einheitliche Haltung im syrischen Bürgerkrieg, bei der Befriedung Libyens, bei der Besteuerung großer Internetkonzerne: Einzelne EU-Mitglieder stehen dem Mehrwert eines gemeinsamen Vorgehens im Wege.

„Warum handelt die EU nicht?“

Der dadurch entstandene Imageschaden wirkt nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. „Warum handelt die EU nicht?“, fragen Bürger, Unternehmer und Interessenvertretungen, die mit Unrecht und Diskriminierung durch internationale Partner konfrontiert sind.

Die Schuldigen daran sind nicht allein bei den Mitgliedstaaten mit ihren Einzelinteressen zu suchen. Sie finden sich auch bei jenen, die der Europäischen Union aus ideologischen Gründen skeptisch gegenüberstehen. Denn sie verhindern, dass gemeinsame Interessen über nationale Interessen eingeordnet werden. Bevor nicht die Akzeptanz für generelle Mehrheitsentscheidungen steigt, werden jene die Oberhand behalten, die sich gegen eine Weiterentwicklung der EU stemmen. Dabei sind die wirklichen Zukunftsfragen wie der Klimaschutz oder eine Gestaltung der Globalisierung durch mehr Steuergerechtigkeit und mehr soziale Gerechtigkeit nur durch die geballte Kraft aller Mitgliedstaaten zu lösen. „Wer eine bessere und handlungsfähigere EU will, muss die Beschlussmechanismen ändern“, appelliert der Vizepräsident des Europaparlaments, ÖVP-Europaabgeordneter Othmar Karas, an die EU-Regierungen.

Befremdlich an der weitverbreiteten Skepsis zur Abschaffung des Vetos ist, dass Mehrheitsentscheidungen in den meisten Politikfeldern der EU – insbesondere im Binnenmarkt – bereits seit vielen Jahren einwandfrei funktionieren. Schon bisher fällen die EU-Regierungen im Rat der EU wichtige Beschlüsse mit einfacher oder qualifizierter Mehrheit. Für Letztere sind 55 Prozent der EU-Regierungen (15 von 27) notwendig, die zumindest 65 Prozent der Gesamtbevölkerung repräsentieren müssen. Die EU-Regierungen hätten sogar die Möglichkeit, weitere Politikbereiche in diese Form der qualifizierten Mehrheit überzuführen. Einziges Problem: Sie brauchten dafür einen einstimmigen Beschluss.

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