Alleingänge

In Krisenzeiten ist sich jeder selbst der Nächste

Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit der deutschen Kanzlerin, Angela Merkel, und Frankreichs Präsidenten, Emmanuel Macron: „Das ergibt keinen Sinn.“
Kommissionschefin Ursula von der Leyen mit der deutschen Kanzlerin, Angela Merkel, und Frankreichs Präsidenten, Emmanuel Macron: „Das ergibt keinen Sinn.“(c) Francisco Seco / AP / picturedesk
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Zu Beginn der Pandemie beherrschten nationale Alleingänge das Geschehen in der Europäischen Union. Die Kommission konnte zunächst nur hilflos zusehen und kämpfte sich Schritt für Schritt zurück ins Geschehen.

„Als Europa wirklich füreinander da sein musste, haben viele zunächst nur auf sich selbst geschaut.“ Ursula von der Leyen blickt in die leeren Sitzreihen des Europaparlaments in Brüssel, während sie den EU-Staats- und Regierungschefs Ende März 2020 in einem historischen Appell die Leviten liest. Vor gerade einmal ein paar Wochen hat das Coronavirus die EU-Mitgliedstaaten erreicht. Die Ereignisse aber haben sich beinahe stündlich überschlagen, sodass die Kommissionspräsidentin bereits dieses erste Fazit ziehen kann.

Hilflos musste die Chefin der mächtigen Brüsseler Behörde dabei zusehen, wie die einzelnen Regierungen weitreichende nationale Maßnahmen beschlossen, ohne sich untereinander abzustimmen oder gar zu helfen. Nur nach und nach gelang es der Kommission, mit gezielten Maßnahmen den Gemeinschaftssinn der Staats- und Regierungschefs in Ansätzen wiederherzustellen.

Doch der Reihe nach. In Erwartung eines Engpasses im eigenen Land hatten die deutsche und die französische Regierung schon Anfang März den Export von Schutzausrüstung und medizinischen Geräten wie Atemschutzmasken und Testkits im Kampf gegen Corona unter einen Genehmigungsvorbehalt gestellt. Die Folge: Länder wie Italien – das zu dieser Zeit von der Krise am schlimmsten getroffene EU-Land mit täglich Hunderten Toten – mussten in China um Hilfe bei der Anschaffung der lebensnotwendigen Güter ansuchen. Die Regierung in Rom beschuldigte Berlin, mit einem „tödlichen nationalen Egoismus“ zu agieren. Auch Wien erhöhte den Druck, als an der deutsch-österreichischen Grenze Lastwagen mit bereits bezahlter Schutzausrüstung nicht durchgelassen wurden. Doch die Ausfuhrbeschränkungen, die wenig später wieder aufgehoben wurden, waren erst der Anfang im europäischen Wettlauf gegen das neuartige Virus.

»„Eine grenzenlose Krise kann nicht gelöst werden, indem wir Barrieren errichten.“«

Ursula von der Leyen, Kommissionspräsidentin

Flickenteppich an Maßnahmen

Ein Schengenland nach dem anderen schloss in diesen Tagen Mitte März seine Binnengrenzen. Ein Flickenteppich an unterschiedlichen Maßnahmen sorgte für Verwirrung unter EU-Bürgern und kilometerlange Staus. Dramatische Szenen an den Grenzen verunsicherten die Menschen zusehends. „Eine grenzenlose Krise kann nicht gelöst werden, indem wir Barrieren zwischen uns errichten. Das ergibt einfach keinen Sinn“, betonte Ursula von der Leyen. Die Kommission appellierte an die Mitgliedstaaten, statt rigoroser Kontrollen lediglich Gesundheitschecks an den Grenzen durchzuführen.

Doch die verzweifelten Versuche aus Brüssel, die Mitgliedstaaten zur Zusammenarbeit zu bewegen, liefen zunächst ins Leere. Ende März verkündete Brüssel einen Einreisestopp an den EU-Außengrenzen. Mit diesem Schritt, so die Idee der Kommission, sollten die einseitigen Maßnahmen der Mitgliedstaaten eingedämmt und die ohnehin schwer angeschlagene Wirtschaft so gut wie nur irgend möglich geschützt werden. Dennoch blieben die EU-Binnengrenzen zunächst vielerorts geschlossen.

Der Vorwurf, die Brüsseler Behörde habe viel zu spät auf das Krisengeschehen reagiert, greift dennoch zu kurz. Wie Sitzungsprotokolle, die der Nachrichtenagentur Reuters vorliegen, bestätigen, hat die Kommission den Mitgliedstaaten bereits Ende Jänner diesen Jahres Hilfe bei der gemeinsamen Beschaffung von Schutzmasken, Testkits und Beatmungsgeräten angeboten. Allerdings erkannten die EU-Regierungen den Ernst der herannahenden Krise zu diesem Zeitpunkt offenbar noch nicht: So sollen Regierungsvertreter der Gesundheitsministerien das Angebot bei Sitzungen in Brüssel abgelehnt haben. Was sich wenige Wochen später in Europa abspielte, ist heute schon Geschichte: Der Bedarf an medizinischer Ausrüstung in vielen Mitgliedstaaten stieg auf das Zehnfache der sonst üblichen Menge an, schon erwähnte Ausfuhrbeschränkungen in wichtigen Produktionsländern wie Deutschland und Frankreich waren die Folge.

Unzählige EU-Sondergipfel – die meisten davon per Videoschaltung – haben seither das politische Geschehen in Europa bestimmt. Die Kooperation unter den Mitgliedstaaten verbessert sich aber nur langsam. Bisherige Bemühungen seien „nicht genug“, kritisierte Ratspräsident Charles Michel erst Mitte Oktober. Immerhin – mehrere Zielsetzungen zur besseren Zusammenarbeit gibt es bereits: So wollen die Staats- und Regierungschefs künftig bei den Quarantänevorschriften, bei der grenzüberschreitenden Kontaktverfolgung sowie bei Teststrategien, Impfkapazitäten und Reisebeschränkungen enger kooperieren. Auf eine Corona-Ampel für Reisebeschränkungen – auch das seit Längerem eine dringende Forderung der EU-Kommission – konnten sich die Europaminister Anfang Oktober verständigen. Konkrete Reisewarnungen erlässt aber nach wie vor jeder Mitgliedstaat nach eigenem Gutdünken.

Ob die nur langsam in den europäischen Hauptstädten sickernde Überzeugung von der Notwendigkeit stärkerer Zusammenarbeit sich auf das Bild niederschlägt, das die Union und ihre Institutionen in den ersten Tagen der Krise abgegeben haben, lässt sich heute noch nicht ausreichend beantworten. Bezweifeln darf man das aber. Eine Anfang Juli veröffentlichte Studie des European Council on Foreign Affairs (ECFR) spricht eine deutliche Sprache: Immerhin ein Drittel der Befragten EU-Bürger gab an, dass sich ihre Sicht auf die Institutionen in der Krise dramatisch verschlechtert habe.

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