Von Schafen und Wölfen

(c) Clemens Fabry
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Österreich mag seine Unternehmer ohnehin nicht besonders. Jetzt aber geht es der Selbstständigkeit als Haltung endgültig an den Kragen, denn zu viel Selbstständigkeit ist dem Nachwuchs ein Gräuel. Eine Besorgnis.

Schafe gelten nicht gerade als sehr selbstständig. Sie stehen gern mitten im Rudel, lassen sich vom Chef namens Hirtenhund von dort nach da schicken, und müssen deshalb auch keine Entscheidungen fällen. Und sie vermeiden um Gottes willen jede Form von Risiko. Dafür gibt es meistens was Gutes zum Futtern.

Wölfe hingegen sind aktiv, gern allein, wenn es wirtschaftlich gesehen von Vorteil ist, auch im Rudel anzutreffen, entscheiden blitzschnell, sind hervorragende Jäger und lange nicht so blutrünstig, wie uns die Brüder Grimm weismachen wollten. Die Lust am Unternehmen führt manchmal dazu, dass sie tagelang nichts zu beißen kriegen. So ist halt das Leben in der freien Wildbahn. Nicht ganz risikolos.

Ein Land voller Schafe

Ein Blick in eines der größten Studentenheime des Landes zeigt, dass Österreich drauf und dran ist, ein Land mit vielen braven Schäfchen zu werden.

„Wir schließen mittlerweile 70 Prozent unserer Verträge mit den Eltern ab“, sagt ein Betreiber von 1600 Studentenzimmern. Tendenz steigend. Die Mama kommt freitags putzen. Sollte das Lamperl am Nachtkästchen ausfallen, ruft der Herr Papa an. Manchmal sogar der Anwalt. Auch sonst ist es sehr beschaulich geworden: War die Heimbar in den Siebzigern siebenmal die Woche mehr oder minder durchgehend geöffnet, so müht man sich jetzt alle zwei Wochen ab, wenigstens einen Abend lang den Nachwuchs aus der Reserve respektive den Zimmern zu locken.

Gemeinsame Aktivitäten? Kaum. Widerstand? Null. Ausland? Lieber nicht. „Vor 20 Jahren noch ist jeder Student für sich selbst zuständig gewesen, kaum jemand hätte sich von den Eltern umsorgen lassen. Heute haben wir Mühe, jene Eltern abzuwehren, die einen Zweitschlüssel verlangen“, sagt der Studentengastgeber.

Resümee: Zu viel Selbstständigkeit ist dem Nachwuchs von heute ein Gräuel.

Dabei hat der Linzer Marktforscher Werner Beutelmayer neulich festgestellt, dass 68Prozent der befragten Eltern angeben, dass Selbstständigkeit für sie das wichtigste Erziehungsziel sei. Und dass das auch so gelebt werde. Seine nicht ganz unhaarsträubende Begründung: 21 Prozent der 14-jährigen Österreicher entscheiden ganz allein, welcher Computer gekauft wird. Und 47Prozent der Kinder nehmen starken Einfluss auf die Auswahl des Urlaubsortes. Na, wenn das so ist.

Im richtigen Leben, jenseits von Fragebögen, macht sich die die „Ich bin ein braves Schäfchen“-Haltung durchaus schon in den Unternehmen bemerkbar. Ein oberösterreichischer Industrieller, global aufgestellt, hatte sein Schlüsselerlebnis, als er eine Nachwuchshoffnung in die amerikanische Filiale seines Unternehmens schicken wollte: „,Das wird schwer‘, haben meine Leute gesagt. ,Wer setzt sich denn in ein amerikanisches Büro, klein, fensterlos, simpel eingerichtet?‘ ,Moment‘, sag ich, ,ich bin mit 25 in London zu viert im Cubical gesessen, fensterlos. Wir haben 14 Stunden am Tag gearbeitet und im Übrigen überhaupt nicht darüber nachgedacht.‘ Die Antwort: ,Ja, die Jugend von heute ist schon anspruchsvoller.‘“

Dem Komfort geopfert?

Wird die Selbstständigkeit auf dem Altar des Komforts geopfert? Sind jene Eltern schuld, die ihre Kinder nicht in die Welt schicken, sondern viel zu lange am Gängelband haben wollen? Sind es die Väter, die ihren halbwüchsigen Söhnen in der Fußballkabine die Schienbeindeckel montieren? Sind es jene Mütter, die der Lehrerin erklären, dass ihr hochbegabtes Mäderl vor dem Rest der Klasse, sprich den einfachen Geistern, geschützt werden müsse? (PS: Rund ein Drittel der Eltern einer herkömmlichen Volksschulklasse hegt mittlerweile den Genieverdacht gegenüber dem eigenen Nesthäkchen.)

Es stimmt schon: Bisher hatten sich die Menschen aller Generationen gewünscht, dass es den Nachkommen besser gehen sollte als einem selbst. Wir hingegen sind die erste Generation, die hofft, dass es den Nachkommen nicht schlechter als uns selbst gehen möge. Offensichtlich haben wir die Welt klima-, ressourcen- oder armutsmäßig nicht sehr nett behandelt. Das daraus resultierende schlechte Gewissen führt wohl dazu, dass wir unseren Kindern alles supernett machen wollen. Und richten es so ein, dass die lieben Kleinen, auch wenn sie gerade 19 Jahre alt geworden sind, möglichst wenig selbst in Angriff nehmen sollen. Und müssen. Der „Prinz von Zamunda“ ist in der österreichischen Durchschnittsfamilie angekommen.

Und dennoch, an dieser Stelle ein großes Aber: Denn in Österreich machen beileibe nicht nur die Eltern Jagd auf die Selbstständigkeit. Diese Jagdgesellschaft hat viele Mitglieder. Und alle Teilnehmer haben gute Gründe mitzumachen. Bevor wir uns ihrer in loser Reihenfolge annehmen, fordern wir aber noch einen wissenschaftlichen Beleg für die These, dass die Selbstständigkeit als Haltung in Österreich über kurz oder lang aussterben wird. Und dass es dann unglaublich viele Schafe, aber kaum noch Wölfe geben wird. Und dass damit in weiterer Folge der Wirtschaft zwar jede Menge geneigter Mitarbeiter zur Verfügung stehen werden, aber es an Unternehmern mangeln wird.

Als Zeugen der Besorgnis rufen wir die Wissenschaftler des steirischen Joanneum auf, die als österreichischer Beitrag am „Global Entrepreneurship Monitor“ mitarbeiten. Die Studie weist aus, dass gerade einmal 2,5Prozent der Erwachsenen hierzulande als Unternehmensgründer tätig werden. Das heißt umgekehrt, dass 39 von 40Österreichern die Sicherheit der Anstellung der unternehmerischen Freiheit in jedem Fall vorziehen. Damit nimmt Österreich unter den 42 untersuchten Ländern den letzten Rang ein.

Hohe „Risiko-Aversion“

Der wichtigste Grund, so die Autoren, liege „an den vorherrschenden soziokulturellen Normen“. Konkret sprechen sie in erster Instanz „die allgemein in Österreich vorherrschende Risiko-Aversion an“. Gepaart mit einem im internationalen Vergleich geringen Maß an Eigeninitiative, Selbstständigkeit und Entschlossenheit bilde dies einen relevanten hemmenden Faktor der unternehmerischen Aktivität. In solchen Momenten erscheinen die Ergebnisse der österreichischen Schüler beim PISA-Test und auch jene der heimischen Fußball-Nationalelf dann auch nicht mehr so schlimm.

Wundern sollten wir uns nicht. In einem Land, in dem der Staatsfunk namens Ö3 ab Dienstagfrüh das kommende Wochenende als Rettung von der Arbeitswoche herbeisehnt, müssen die Menschen doch irgendwann glauben, dass Arbeit eine leidvolle Unterbrechung ihrer Freizeit ist und selbstständiges Denken des kapitalistischen Teufels ist.

Ähnliche Befürchtungen leiten natürlich auch unser Schulsystem. Der durchschnittliche Maturant weiß zwar, dass man im australischen Perth von Schwerindustrie leben kann und dass im bulgarischen Plovdiv Rosenöl produziert wird. Wie Unternehmen funktionieren, dass Umsatz nicht gleich Gewinn ist, dass und wie man Steuern zahlt – das hingegen ist nicht Gegenstand der schulischen Agenda.

Wirtschaftskunde mit Wandtafeln

Machen wir reinen Tisch: Wer nach wie vor „Geografie- und Wirtschaftskunde“ mit Wandtafeln und Schaubildern unterrichtet, der macht das absichtlich. Wir zitieren aus einem Statusbericht: „Ergänzt wird der Wirtschaftskundeunterricht im Praktischen, etwa mit der verbindlichen Übung Berufsorientierung.“ Welches Jahr schreiben wir denn eigentlich?

Und so passiert Folgendes: Weil wir Österreicher gern gut essen, haben wir folgerichtig Knödelakademien eingerichtet; weil wir gern und gut Löcher in Berge graben, betreiben wir die Höhere technische Lehranstalt. Und natürlich braucht ein Land, dessen Identität mit Abfahrtssiegen genährt wird, Skigymnasien. Nicht zu vergessen die Handelsakademien, die sich um die Ausbildung von Buchhaltern kümmern. Von Menschen also, die „im System arbeiten“. Dagegen ist nichts einzuwenden – wir brauchten nur ganz dringend Ausbildungsstätten, aus denen Menschen hervorgehen, die „an Systemen arbeiten“ können.

Systemisch spannend ist dabei die Frage, die man sich immer stellen sollte, wenn absurde Missverhältnisse besonders lange anhalten: Wer zieht denn einen Nutzen aus der Tatsache, dass Wirtschaft, Selbstständigkeit oder gar Risiko an Österreichs Schulen nicht einmal ein Randthema ist? Richtig: die Bürokratie.

Allein der öffentliche Dienst beschäftigt rund 650.000Menschen. Von staats- und andersnahen Institutionen gar nicht zu sprechen. Die „Privatwirtschaft“, wie unsere Politiker gern in einem Wort ihren Zugang zum Unternehmertum offenlegen, darf auf keinen Fall mit zu viel Nachwuchs versorgt werden. Die dramatische „Verschulung“ vieler Studienrichtungen an unseren Universitäten durch den europäischen Bologna-Prozess ist dabei eine willkommene Hilfe. Fahrenheit 451 in Rot-Weiß-nix-Rot.

Was sagt den eigentlich die Wirtschaftskammer dazu? Ganz Bürokratie, aber doch unternehmensnah, bietet man jungen Leuten einen „Unternehmerführerschein“ an. In ein paar wenigen Stunden wird willigen Schülern beigebracht, wie lustig das Unternehmensleben ist. „Wie werde ich Josef Zotter?“ im Schnellsiederkurs sozusagen. Das ist ungefähr so, als würde man versuchen, Österreichs Medaillenbilanz bei den Olympischen Sommerspielen mit einem verstärkten Angebot an Freischwimmerkursen zu verbessern.

Währenddessen hat eine Reihe von amerikanischen Bundesstaaten als Reaktion auf die Krise einen verpflichtenden Wirtschaftsunterricht eingeführt. Den Schülern werden wirtschaftliche Grundlagen vermittelt. „Newsweek“ hat in diesem Zusammenhang die pädagogischen Konzepte auf beiden Seiten des Atlantiks verglichen. Ergebnis: In europäischen Lehrbüchern werden freie Märkte gern mit Ausbeutung gleichgesetzt. Junge Amerikaner hingegen sollen die Marktwirtschaft als Chance begreifen. Das macht einen Unterschied. Wenn sich in den Staaten jemand einen Porsche kauft, denkt sich sein Nachbar: Nächstes Jahr will ich auch einen haben. Hierorts denkt sich der Nachbar: Nächstes Jahr kann sich der die Leasingraten für das Auto ohnehin nicht mehr leisten.

Apropos Ausbeutung: Solange die Gewerkschaften den Eindruck haben, dass sie das Gegenteil von Wirtschaft und nicht ein für das soziale Controlling zuständiger Teil derselben sind, wollen wir sie hier strafweise nicht erwähnen.

Rekorde relativieren sich

Werfen wir stattdessen einen Blick auf die jährlich publizierten Gründerzahlen. Würden die stimmen, müsste Österreich von Unternehmen nur so strotzen. Beim genaueren Hinschauen aber relativieren sich die alljährlichen Rekordmeldungen ziemlich schnell. Zum einen stehen laut Statistik Austria den 28.800Neugründungen immerhin 25.800Unternehmensschließungen gegenüber. Außerdem sind die überwiegende Zahl der Neugründungen sogenannte EPU: Ein-Personen-Unternehmen.

Masseure, Pfleger, Designer. Und -innen. In Wien zum Beispiel 84 Prozent. Der Wirtschaftskammer ist anzurechnen, dass sie jenen Menschen, die sich zur Gründung eines Unternehmens entschlossen haben, effizient hilft. Aber dass es so weit kommt, dass jemand in Österreich selbstständig oder gar unternehmerisch wird, dafür fühlt sich niemand zuständig.

Ganz im Gegenteil. Bleiben wir noch ein wenig in Wien. Gut und gern die Hälfte der volkswirtschaftlichen Leistung der Stadt unterliegt einem etatistischen Einfluss. Einerseits wird da fröhlich alimentiert, andererseits werden durch Auftragsvergaben Abhängigkeiten geschaffen. Wer traut sich, mutig Stellung zu beziehen, wenn sein Unternehmen an öffentlichen Aufträgen hängt? Auch so wird Selbstständigkeit Stück für Stück abgebaut.

Egal, könnte man sagen. Sollte man aber nicht. Denn im Worst-Case-Szenario wird Österreichs Wirtschaft der wichtigste Rohstoff ausgehen – die hellen Köpfe. In fünf Jahren kommen erstmals weniger Junge in den Arbeitsmarkt, als Ältere in den Ruhestand gehen. Diese wenigen Jungen werden anspruchsvoller sein und größten Wert auf Work-Life-Balance legen (auch um den Preis, weniger zu verdienen). Die Unternehmen müssen wohl mit kreativen Jobbeschreibungen, mit flexiblen Verträgen, mit Sabbaticals, kurz mit mehr Freiheiten für die Mitarbeiter reagieren. Die aber werden, zu Schäfchen erzogen, freundlich nicken, die Freiheiten aber mangels Selbstständigkeit nicht nutzen können.

Wir lernen daraus: Schäfchenzählen taugt nur als Einschlafübung.

Was ist also zu tun? Gibt es einen Hoffnungsschimmer für die Selbstständigkeit? Es wird an den Unternehmern liegen, das „Abenteuer Wirtschaft“ in die Schulen zu bringen. Und wenn nicht gleich in alle, so doch in einige wenige. Wenn ohnehin viele Schulen angesichts fallender Schülerzahlen um ihre Existenzberechtigung kämpfen, müssten doch ein paar Wirtschaftsgymnasien machbar sein. Zur Not von unternehmerischen Menschen initiiert. Am besten mit einem Unterrichtsgegenstand, der so ähnlich wie „Risiko- und Entscheidungskunde“ heißt.

Beugehaft für Ö3-Redakteure

Hilfreich wäre auch, die Politikergehälter an die Selbstständigenquote zu koppeln (in Zusammenhang mit einem PISA-Test für Unternehmertum) oder auch Ö3-Redakteure mit Beugehaft für wirtschaftsfeindliche Einwürfe zu bedrohen.

Bis dorthin bleibt wohl nur der Aufruf an p.t. Elternschaft: Gebt euren Kindern eine Chance – indem ihr ihnen so früh wie möglich so viel Verantwortung wie möglich überträgt. Schickt sie ins Ausland (und nicht nur Studenten, sondern auch die jungen Facharbeiter). Ein Semester im Cubical kann ihr Leben verändern.

Mehr können wir für Österreich im Moment nicht tun.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.11.2010)

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