Ukraine

Wie sich die Armee und die Bevölkerung in Kiew auf einen Angriff Russlands vorbereiten

Grundausbildung am Holzgewehr für Zivilisten durch Kämpfer einer patriotischen Miliz in einem Fabriksgelände in Kiew.
Grundausbildung am Holzgewehr für Zivilisten durch Kämpfer einer patriotischen Miliz in einem Fabriksgelände in Kiew.AFP/SERGEI SUPINSKY
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Auf den Gemütern der Ukrainer lastet seit Monaten Unsicherheit ob des russischen Aufmarschs. Viele melden sich zu militärischen Hilfsdiensten, andere glauben nicht an eine große Invasion, manche vertrauen auf Gott. Ein Besuch auf Kiew.

Da sind Medikamente, mein Helm und die schusssichere Weste“, sagt Jasheslaw und zeigt eine der mit Schaumstoff beklebten Metallplatten, die vor Kugeln schützen sollen. „Sie halten keinem Scharfschützengewehr stand, aber Kalaschnikow und Pistolen“, meint der 38-Jährige in seiner Wohnung in Kiew.

„Russische Truppen stehen an unseren Grenzen und wollen die Ukraine einnehmen“, raunt der Vater zweier Kinder am Küchentisch. Angst hat Jasheslaw nicht, wie er mehrmals betont. Er sei bereit, sein Land zu verteidigen. Als Zeichen der Entschlossenheit verschränkt er die Arme vor der Brust. „Wann Russland angreift, weiß man nicht. Das kann sich noch lang hinziehen. Aber sicher ist: Sie werden kommen.“ Er nimmt seine Katze mit dem dicken grauen Fell, streichelt sie kurz und verscheucht sie gleich wieder.

Bei Putin weiß man nie. Jasheslaw ist einer von rund 120.000 Freiwilligen und Reservisten im Alter von 18 bis 60, die die Armee unterstützen sollen. „Wir sind binnen Stunden bereit, schützen Regierungsgebäude, Strom- und Wasserversorgung, und kämpfen auch“, versichert Sergii Ogorodnyk im Hauptquartier dieser Verteidigungskräfte in Kiew. „Wir sind eine Nichtregierungsorganisation, aber dem Verteidigungsministerium unterstellt, das die Waffen liefert.“ Täglich riefen etwa 70 Leute an und meldeten sich. „Die Anfragen steigen, denn die Sorge ist groß, dass selbst die Hauptstadt attackiert wird“, sagt Ogorodnyk. „Ich kann's zwar nicht glauben, aber bei Putin weiß man nie.“

Der russische Präsident sei „verrückt“, das mache die Lage so unberechenbar. „Wer hätte gedacht, dass Russland 2014 die Krim erobert?“, fragt Ogorodnyk. „Und dass Separatisten einen Teil der Ostukraine in Donbass und Luhansk besetzen?“ Das war damals eine Reaktion auf die Maidan-Proteste: Die Massendemonstrationen in Kiew hatten zum Sturz des damaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch geführt, einem Schützling Putins. Damit schien für die Ukraine der Weg frei in die Demokratie. Erst am Freitag hat US-Präsident Joe Biden erneut beteuert, er sei sich sicher, Putin habe den Beschluss für eine Invasion der Ukraine getroffen. Dafür sollen mehr als 150.000 Soldaten bereitstehen. Aber weiter herrschte Rätselraten, wann, wie und wo der von den USA angekündigte Krieg beginnen soll. Wird es eine umfassende Invasion, ein Angriff auf Teile der Ostukraine oder findet es im Süden statt? Beginnt es heute, morgen, in zwei Monaten? Es ist die Ungewissheit, die an den Nerven der Ukrainer nagt. Deren Gefühlslage ist so gemischt wie das aktuelle Wetter: Einmal Sonne, dann verhängen Regen und Nebel den Himmel, danach fällt Schnee. Es ist ein beklemmendes Gefühl, das überall zu spüren ist. Die schweren Gefechte der vergangenen Tage in der Ostukraine, die Generalmobilmachung der Separatisten und die russischen Manöver verstärken nur den Druck auf die Seele.

„Ich werde auf der Straße oft angesprochen, ob wirklich Krieg droht“, sagt der griechisch-orthodoxe Bischof Wladimir. „Die Menschen haben Angst wie nie zuvor.“ Es habe vor Monaten begonnen, erzählt der Geistliche mit Zottelbart und Pferdeschwanzfrisur. „Wenn Politiker auf höchster Ebene von Krieg sprechen, dann beeinflusst das die normalen Leute. Bisher kam es in der Ostukraine ständig zu Schusswechseln, aber das war für die meisten weit weg“, sagt der Bischof. „Aber jetzt könnte der Krieg alle erfassen. Da kommen alte Ängste und Sorgen plötzlich hoch.“ Als Priester könne er nur Mut und Hoffnung geben: „Auf dass Gott einen Weg findet, die Menschen zu beschützen.“

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