Analyse

Ist die ukrainische Gegenoffensive kriegsentscheidend?

Ukrainische Truppen erreichen nördlich von Charkiw die russische Grenze.
Ukrainische Truppen erreichen nördlich von Charkiw die russische Grenze.(c) via REUTERS (UKRAINIAN MINISTRY OF DEFENCE)
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Die Ukraine meldet Erfolge bei Charkiw. Wie bedeutend sind diese Raumgewinne für die Ukraine tatsächlich? Darüber haben zwei Militärexperten mit der „Presse“ gesprochen.

Die Ukraine könne den Krieg gewinnen, sagte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am Sonntagabend. Russland komme in der Ostukraine nicht so rasch voran, wie geplant. Am Montagvormittag dominierte dann folgende Meldung die westlichen Medien: Ukrainische Soldaten sollen im Nordosten des Landes in der Region Charkiw die Grenze zu Russland erreicht haben. Das ukrainische Verteidigungsministerium veröffentlichte ein Video mit Soldaten neben einem Grenzpfahl in den Nationalfarben Blau-Gelb. Dank einer Gegenoffensive könnten ukrainische Soldaten den russischen Truppen in den Rücken fallen, hieß es. Doch wie bedeutend sind diese Raumgewinne für die Ukraine? Und sind Meldungen wie diese im Verhältnis zu russischen Erfolgsmeldungen in westlichen Medien überrepräsentiert?

Oberst Markus Reisner von der Militärakademie in Wiener Neustadt konstatierte im Gespräch mit der „Presse“ eine allgemeine Tendenz, eher den Informationen des Verteidigers Glauben zu schenken als jenen des Aggressors. „Wenn man Tag für Tag die Entwicklungen ansieht, muss man erkennen, dass die Russen Stück für Stück an den Kesselrändern einrücken. Sie hatten auch in den letzten 48 Stunden an einigen Stellen im Donbass Erfolge”, so Reisner.

Kiew gewinnt den Informationskrieg

In sozialen Medien in Russland finde man viele verheerende Bilder von ukrainischen Soldaten, während die Ukraine in den Westen vor allem Bilder der eigenen Erfolge schicke. Weil sie wirtschaftlich und ausrüstungstechnisch von den USA und Europa abhängig sei. Auch der Militärexperte Franz-Stefan Gady rät dazu, Informationen mit Vorsicht abzuwägen. „Es herrscht ein Informationskrieg, der von der Ukraine gewonnen wird.“

Für die Ukrainer gebe es im Donbass kaum Möglichkeiten vorzustoßen, analysiert Oberst Reisner. Die Taktik sei es aber, an anderer Stelle anzugreifen, um die Russen zu einer Kräfteverlagerung zu zwingen. Das sehe man einerseits im Raum Charkiw, andererseits auch im Süden am Dnjepr bei Saporischschja und bei Mykolajiw im Gebiet Cherson.

In Charkiw dürfte Reisners Einschätzungen zufolge die Ukraine besser mit Waffen versorgt sein. Im Nordosten kämen die Waffenlieferungen aus dem Westen einfacher an. „In den Donbass bekommt man die US-Waffen nicht hinein“, erklärt der Militärstratege.

Taktischer Rückzug der Russen

Sowohl Reisner als auch der Militärexperte Gady gehen im Gespräch mit der „Presse“ davon aus, dass der ukrainische Vorstoß in Charkiw aber auch insofern zu relativieren ist, als es sich um einen taktischen Rückzug der Russen handle. Die russischen Streitkräfte hätten erkannt, dass sie das Gebiet nicht halten könnten, so Gady. Demnach lasse sich auch nur schwer über die tatsächliche Stärke der dortigen ukrainischen Truppen urteilen. Ziel der Ukraine sei es gewesen, die russische Artillerie so weit zurückzudrängen, dass die Stadt nicht mehr beschossen werden könne, erklärte Gady. Das sei auch gelungen. „Unmittelbar“ sehe er aber keine große Gefahr für die russischen Truppen, die im Donbass operieren. „Die Versorgungslage der Russen scheint in Ordnung zu sein“.

(c) Die Presse

Das Institute for the Study of War in den USA hat am Montag neue Analysen zu Russlands Bewegungen in der Ukraine veröffentlicht. Die russischen Streitkräfte haben demnach ihr Ziel aufgegeben, ukrainische Einheiten in Donezk und Isjum einzukesseln, und konzentrieren sich nun auf die vollständige Einnahme der Provinz Luhansk. Die Anführer der selbst ernannten und nur von Russland anerkannten „Volksrepublik Lugansk“, die nur einen Teil der ukrainischen Provinz ausmacht, hätten bereits die Generalmobilmachung ausgerufen, warnte der Gouverneur. Diese Verschiebung der militärischen Ziele der russischen Operation sieht auch Militärexperte Gady. In der nächsten Phase der Kämpfe würde Sjewjerodonezk in den Fokus der Russen rücken. Im städtischen Umfeld – die Stadt zählte vor Kriegsbeginn mehr als 100.000 Einwohner – könnten sich die Defizite auf russischer Seite allerdings verstärkt bemerkbar machen: Fehlende Infanterie werde aber durch Artillerieschläge auszugleichen versucht.

Der Krieg ging aber auch in anderen Landesteilen mit unverminderter Härte weiter. In Odessa soll laut ukrainischen Angaben eine touristische Unterkunft durch einen russischen Raketenangriff zerstört worden sein. Und Russland will gleich drei Kampfjets abgeschossen haben.

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