Rechtsstaat

Europäische Richter klagen Europäischen Rat wegen Polen

Anforderungen an die Justizreform als Voraussetzung für Aufbauhilfen bleiben hinter den Vorgaben des EU-Gerichtshofs zurück, monieren vier Richtervereinigungen.

Normalerweise werden Klagen an Richter herangetragen, diesmal ist es umgekehrt: In einer beispiellosen Aktion wenden sich Richterinnen und Richter aus ganz Europa an ein Gericht, und zwar kein geringeres als den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg. Vier europäische Richterorganisationen haben sich zusammengefunden, um dort den Europäischen Rat zu klagen.

Hintergrund der Klage der Vereinigung Europäischer Verwaltungsrichter (AEAJ), der Europäischen Richtervereinigung (EAJ), der Rechters voor Rechters (Richter für Richter) und der Magistrats Européens pour la Democratie et les Libertés (MEDEL) ist die unzureichende Unabhängigkeit der Justiz in Polen. Darauf hat auch bereits der EuGH in mehreren Urteilen hingewiesen. Als Abhilfe wollte die EU die Auszahlung von Mitteln aus der Aufbau- und Resilienzfazilität unter anderem an die Bedingung binden, dass der Zugriff der Politik auf die Gerichte in Polen zurückgenommen wird. Genau das hat nämlich der EuGH verlangt.

Freigabe von Mitteln aus Aufbau- und Resilienzfonds

In einem Beschluss vom 17. Juni 2022 hat der Europäische Rat jedoch die Anforderungen niedriger gesetzt als vom EuGH vorgebeben, klagen die versammelten Richter. Sie haben heute, Freitag, Klage beim EuGH  gegen den Europäischen Rat wegen seiner Entscheidung eingereicht, den Aufbau- und Resilienzfonds für Polen zu entsperren. Es handelt sich dabei um eine Nichtigkeitsklage nach Artikel 263 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Insgesamt sind Polen 35,4 Mrd. € zugewiesen, von 23,9 Mrd. € in Form von Finanzhilfen und 11,5 Mrd. € in Form von Darlehen.

Konkret werfen die Richter dem Rat vor, die EU-Mittel für Polen zu entsperren, sobald drei „Meilensteine“ erfüllt seien: Die Disziplinarkammer des Obersten Gerichtshofs müsse aufgelöst und durch ein unabhängiges Gericht ersetzt werden; das Disziplinarregime müsse reformiert werden; Richterinnen und Richter, die von den Entscheidungen der Disziplinarkammer betroffen seien, müssten das das Recht haben, ihre Fälle von der neuen Kammer überprüfen zu lassen.

EuGH: Richter sofort wiedereinsetzen

Die Richterorganisationen argumentieren, dass diese Meilensteine hinter dem zurückblieben, was erforderlich sei, um einen wirksamen Schutz der Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter und der Justiz zu gewährleisten; damit würden sie die diesbezüglichen Urteile des EuGH missachten. Dieser hatte nämlich entschieden, dass die polnischen Richterinnen und Richter, die von rechtswidrigen Disziplinarverfahren betroffen sind, unverzüglich und ohne jegliches Verfahren wiedereingesetzt werden sollten. Demgegenüber würde einer der Meilensteine ein Verfahren von mehr als einem Jahr mit einem ungewissen Ergebnis vorsehen.

Ziel der Klage sei es, dass „eine Entscheidung der Kommission, EU-Mittel für Polen zu entsperren, solange verhindert wird, bis die Urteile des EuGH vollständig umgesetzt sind“, schreiben die Richterorganisationen in einer gemeinsamen Stellungnahme.

Die Richterinnen und Richter betreten mit der Klage Neuland. Als Erstes wird der EuGH die Klagslegitimation der Vereinigungen klären müssen.

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