Forschung

Zeitreisen zu den Wendepunkten der Menschheit

(c) Joseph Krpelan
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Ron Pinhasi beschäftigt sich mit den fundamentalen Fragen unserer Evolution und Geschichte. Um sie zu beantworten, entwickelte er Methoden, mit denen selbst schlecht erhaltene alte DNA-Fragmente analysiert werden können.

Angefangen von Wanderungsbewegungen über soziale Systeme und Stammbäume bis hin zu den großen Entwicklungssprüngen und den ersten landwirtschaftlichen Gruppen – der Anthropologe und Archäologe Ron Pinhasi von der Uni Wien bringt Licht in die Vergangenheit des Menschen. Seine Erkenntnisse findet er in DNA, der genetischen Information eines Organismus, die er aus alten Knochen, Zähnen, mumifiziertem Gewebe und Sedimenten extrahiert.

„Wir leben in sehr aufregenden Zeiten, die technologischen Möglichkeiten sind einfach toll“, sagt er. „All diese Fragen, die wir dank der Genetik in den vergangenen Jahren beantworten konnten – das war unvorstellbar, als ich noch ein Student war. Vom damaligen Standpunkt aus war das Science-Fiction. Heute sind wir in der Lage von DNA auf soziale Organisationsformen rückzuschließen und die Verwandtschaftsverhältnisse über Generationen hinweg zu verfolgen, das ist faszinierend.“ Pinhasi zählt zu den Koryphäen auf dem Gebiet. Er perfektioniert Methoden, mit denen es zunehmend gelingt, auch Erbinformation aus von klimatischen Bedingungen stark in Mitleidenschaft gezogenen Funden zu gewinnen.

Zwischen Labor und Ausgrabungsstätte

Pinhasis Hauptinteresse gilt zwei Perioden: den vergangenen 200.000 Jahren menschlicher Evolution und dem Ende der Neandertaler sowie dem Übergang von Jagd- zu Agrargesellschaften vor rund 12.000 Jahren. Er analysiert Fragmente alter DNA (ancient DNA bzw. aDNA) von archäologischen Stätten weltweit in Hinblick auf Gesundheit, Krankheit, Ernährung und Wachstum. Das Labor ist dabei nur eine Wirkungsstätte, denn Pinhasi leitet auch Grabungsprojekte im Kaukasus, wo er immer wieder selbst vor Ort ist. In einer armenischen Höhle fand sein Team etwa den bisher ältesten erhaltenen Schuh.

Dank Pinhasis Forschung wissen wir heute zum Beispiel, dass die britischen Frühzeitbauern polygam waren und mit dem Milchtrinken vor den Europäern begonnen haben. Wir wissen, wie die Inselwelt in Ozeanien besiedelt wurde und dass dort anders als in Europa matrilokale Gesellschaften lebten, bei denen also die Männer zu den Frauen zogen. Wir wissen auch, dass sich der Ackerbau vor 12.000 Jahren mehrfach entwickelt hat und dass Pesterreger die Menschen schon seit mindestens 6200 Jahren heimsuchen. Und wir wissen, dass die Bewohnerinnen und Bewohner Afrikas vor 12.000 Jahren das Weitwandern eingestellt haben, sprich, dass Regionalität mit dem Ende der letzten Eiszeit modern wurde.

Ebenfalls spannend: Die Diversität der Bevölkerung im Alten Rom war enorm. „Davon erzählen uns historische Texte kaum etwas, in denen es ja nicht oft um alltägliche Menschen geht“, sagt Pinhasi. Aktuell erforscht er im Projekt „Minerva“ mit seinen Kollegen Stephan Krämer und Thomas Rattei alte DNA aus Knochen genauso wie aus Mineralien und Sedimenten von archäologischen Stätten von vor zwei Millionen Jahren bis zum frühen Mittelalter. In Zusammenarbeit mit der Archäologin Barbara Horejs (ÖAW) ist er derzeit etwa dabei, anhand von DNA aus Sedimenten und Schmutz von Funden in Serbien Details zur Lebensweise der ersten Ackerbauern Europas herauszufinden.

45.000 Proben auswerten

Darüber hinaus analysiert er mit seinem langjährigen Kollaborationspartner David Reich von der Harvard University (USA) kontinuierlich alte, schlecht erhaltene DNA aus besonders trockenen Regionen rund um den Globus. Ihr Vorhaben: Sie durchsuchen die Proben von 45.000 Menschen der vergangenen 50.000 Jahre nach verwertbarer aDNA und hoffen, aus zumindest einem Drittel eine Vergleichsbasis für spätere Analysen zu schaffen.

Die Methoden für seinen Blick in die Menschheitsgeschichte entwickelt Pinhasi seit zehn Jahren laufend weiter. Sein erstes aDNA-Labor, in dem er Anthropologie und Genetik zusammengeführt hat, eröffnete er 2013 in Dublin, seit 2017 forscht er mit eigenem Team am Standort Wien. Die interdisziplinäre Gruppe beschränkt sich nicht nur auf die Analyse von DNA, sondern nutzt unter anderem die Methoden der Paläoepigenetik. Mit diesen können alte Knochen und Zähne unter anderem auf molekulare Veränderungen durch Umweltstressfaktoren wie Hunger untersucht werden.

Alte DNA aus Viren gewinnen

Für den 54-jährigen Iren hat sich mit der Eröffnung eines eigenen Labors an der Uni Wien ein Kreis geschlossen. Hat er doch seine akademische Laufbahn nach der Promotion in Biologischer Anthropologie an der University of Cambridge in Großbritannien 2003 einst in der österreichischen Hauptstadt – und zwar mit einer Lise-Meitner-Fellowship am Naturhistorischen Museum – begonnen. Spätere Stationen waren die University of Roehampton in London, das Trinity College Dublin sowie das University College Cork in Irland.

Angesichts der vielfältigen Forschungsbereiche, der parallel laufenden Projekte und der zahlreichen hochkarätigen Publikationen erscheint die Frage nach Zerstreuung und Hobbys fast müßig. „Mit der Zeit bin ich besser darin geworden“, m eint P inhasi l achend. „Mittlerweile habe ich eine gewisse Balance zwischen Arbeit und Familie gefunden, auch wenn es manchmal hart ist abzuschalten.“ Am besten gelinge ihm das, wenn er mit seiner Frau und seinem Sohn Wanderungen macht oder auf dem Rad unterwegs ist. „Ich bin dankbar für mein tolles Team, an das ich viele Dinge delegieren kann. Es ist für mich sehr schön, andere durch meine Ideen zu inspirieren.“ In Zukunft will der Anthropologe die Vergangenheit und die Gegenwart mehr miteinander in Verbindung bringen. Im Fokus steht das Anthropozän: „Ich will wissen, wie der Mensch die Umwelt verändert, wie er mit Ökosystemen interagiert, wie mit Tieren. Da geht’s auch um Krankheitserreger, weshalb aDNA aus Viren wie Herpes von Interesse ist.“

Das Voting für „Österreicher:innen des Jahres“ finden Sie unter: www.diepresse.com/austria22

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