Kindesmisshandlung: "Und dann bin ich ausgezuckt..."

Kindesmisshandlung dann ausgezuckt
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Ein neuer Fall hat zuletzt wieder alte Fragen aufgebracht: Wie kann es passieren, dass man ein kleines Kind prügelt? Die Genese einer Kindesmisshandlung - diesmal aus der Sicht einer ehemaligen Täterin.

Ich frage mich, wie es das gibt, wie das sein kann. Der Typ, der das gemacht hat ... Das verstehe ich nicht.“ Wenn Caroline C. (Namevon der Redaktion geändert) an die Schlagzeilen der vergangenen Woche zum Vorarlberger Kindesmisshandlungsfall denkt, reagiert sie wie viele. Kopfschüttelnd, fassungslos. Doch dann sagt sie den Satz, der einen stutzen lässt: „Ich finde es arg, dass man ein dreijähriges Kind zu Tode schlagen kann, denn Entschuldigung, dass ich das so sage, aber einen Dreijährigen erschlägt man nicht so leicht wie ein Baby.“ Nachsatz: „Weil, ein Dreijähriger, der redet ja schon mit dir.“

Und da erinnert man sich wieder: Die 43-Jährige, die einem gegenübersitzt, reflektiert spricht und gerade für ihre Studienberechtigungsprüfung lernt, wurde einst wegen schwerer Kindesmisshandlung zu 30 Monaten Haft verurteilt; zehn davon war sie im Gefängnis. C.s Tochter Johanna (Namegeändert) wurde nur 100 Tage alt. Sie habe damals eine milde Strafe bekommen, weil man nach dem Tod festgestellt habe, dass das Mädchen auch sehr krank gewesen sei, sagt C. „Sie ist an Wasser in der Lunge erstickt, letztlich konnte man nicht sagen, was der Grund dafür war.“ Cs. Fall ist, das muss man betonen, mit jenem in Vorarlberg nicht direkt vergleichbar. Die Umstände, die Tat selbst, die über 20 Jahre zurückliegt, sind sehr verschieden. Und als weiblicher Gewalttäter ist Caroline C. ein statistischer Ausreißer. Zwar fehlen umfassende Zahlen, aber die der Wiener Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie zeigen: Bei den im Jahr 2009 eingegangenen Gefährdungsmeldungen mit Kindern oder Jugendlichen als Opfer war in 94 % der Fälle ein Mann „Gefährder“. „Generell begehen Männer öfter schwere Gewalttaten, Frauen öfter Vernachlässigung“, so Birgitt Hall vom Institut für Konfliktforschung. Trotzdem hat C.s Geschichte Allgemeingültigkeit: Sie zeigt, wie eng Gewalt mit Versagen verknüpft ist – eigenem, familiärem, staatlichem.


Im Fahrwasser. Wenn Caroline C. den Zeitpunkt bestimmen soll, wann alles begann, sagt sie: „In der Schwangerschaft. Da war ich schon im Fahrwasser; später, als das Kind da war, war es eigentlich zu spät.“ 1986, mit 18 Jahren, wird C. bei einem Aufenthalt in der Türkei, wo ihr Freund lebt, schwanger. Bei der Rückkehr nach Wien setzt sie die Mutter vor die Tür. „Sie hat wortwörtlich gesagt: Du brauchst mit einem Türkenbankert gar nicht mehr heimkommen.“ Und auch in der Türkei wird das Kind „als Schande“ gesehen. C. hängt, wie sie sagt, „in der Luft – die Wiener haben sich gedacht, die Türken werden helfen, und umgekehrt.“ Eine rastlose Zeit folgt, die C. ausführlich schildert. Sie will, dass man versteht. Eine Zeitlang wohnt sie in der Wohnung des Bruders, bei Freunden, ein paar Mal schläft sie, hochschwanger, im Park. Die Idee, sich an eine Hilfseinrichtung zu wenden, kommt ihr nie. Erst bei der Entbindung im Spital fällt ihr schlechter Zustand auf. C. wird an ein Mutter-Kind-Heim verwiesen, zieht in ein kleines Zimmer.

Durch die dünnen Wände hört sie den Erziehungsalltag: „Fast alle haben ihre Kinder gehaut – nur waren die halt älter als meines.“ Dem Sozialarbeiter, der einmal die Woche vorbeigeschaut habe, sei nie etwas aufgefallen, sagt C. Genauso wenig ihrer alten Kinderärztin, bei der C. mit der Kleinen sporadisch ist. „Nur untereinander haben wir es gewusst, und wenn es bei einer zu arg wurde, ist man halt rüber und hat ihr das Kind kurz abgenommen.“ Im Nachhinein wurde C.s Fall zum internen Skandal und Anlass, in den Heimen die Betreuung zu verbessern.

Man haut hin, haut hin.
Wann sie das erste Mal zugeschlagen hat, weiß C. nicht mehr: „Jedenfalls nicht gleich, ich habe mich am Anfang sehr bemüht, auch später war alles immer picobello.“ Nur habe das Kind dauernd geschrien, sie selbst sei müde gewesen, dann krank – „und irgendwann bin ich dann ausgezuckt“. Einmal, zweimal, öfter. „Es war schubweise, nach jedem Mal waren 14 Tage Ruhe, wo ich versucht habe: Geduld, Geduld und dann – pfff.“ Zu Beginn habe sie dem Kind – den Namen nennt C. fast nie – noch auf den Hintern geschlagen, dann auf den Kopf: „Man haut hin, haut hin, haut hin ... Nachher bin ich manchmal davongerannt.“ Später wird C. den Bericht des Gerichtsmediziners lesen und die Hirnödeme sehen. Warum sie „ausgezuckt“ ist, versteht sie bis heute nicht: „Ich war in der Familie immer die Geduldige.“ Sie habe nie wie ihre Mutter werden wollen, die ihr und den Geschwistern „Watschen gegeben hat, bis Blut oder Wasser floss“.

Den Todestag erlebt C. dann als „unwirklich“. Als sie das Kind am Morgen aus dem Bett holen will, bemerkt sie die Totenstarre und beginnt zu schreien. Aufruhr, Polizei, Vernehmung. C. streitet zunächst ab, gesteht bald aber. „Es war, als würde ich aus einer Blase auftauchen, und meine Ohren, die verlegt waren, gehen auf. Es wurde mir klar: Das war wirklich ich. Ich habe mich geekelt.“ Prozess und Haft folgen: Als C. ihre Strafe antritt, ist sie gerade Mutter geworden. Ungeplant. „Das Kind ist mir passiert.“ So wie später zwei weitere.

Doch: Kann man mit so einer Geschichte Kinder großziehen? Darf man das? Nach der Haft wird C. oberste Priorität beim Jugendamt, wohl auch, weil der Fall den Behörden peinlich ist. „Ich habe ihr gesagt, dass ich sie drei Mal pro Woche sehen will, einmal davon mit Arzt“, erzählt Getrude König, die C. damals als Sozialarbeiterin zugeteilt wird. Mit der Zeit entsteht Vertrauen. „Natürlich hatten wir Zweifel und haben uns tausend Mal gefragt, ob es möglich ist“, sagt König. Aber C. kooperiert und lernt, sich zu kontrollieren.

Zumindest einigermaßen. Watschen, gesteht C., habe es weiterhin gegeben, zumindest für die Söhne – „aber erst als sie älter waren und nicht ins Gesicht“. Später habe sie sich bei ihnen entschuldigt. Die Kinder kennen auch die Vorgeschichte der Mutter; das Verhältnis zum 20-jährigen Sohn und der 18-jährigen Tochter (der Älteste starb bei einem Autounfall) beschreibt C. heute als „super“. Sie könne gut mit Jugendlichen, sagt C. Nur eben nicht mit Babys. Das habe sie über sich gelernt. Und wenn ihre Kinder irgendwann Enkelkinder zum Aufpassen bringen? „Dann sind die ja nur kurz da“, sagt C., „und außerdem kann ich auch nein sagen. Manchmal ist das das Bessere. “

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.01.2011)

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