100 Rätsel der Kommunikation, Folge 26. Einmal pro Tag sollte man selbst zumindest Einhorn sein. Sonst macht's nämlich die KI.
Schon schade. Dass man nicht das Leben vollständig digitalisieren kann. Immer nur Teile. Bankgeschäfte und Freundschaftsbeziehungen. Man könnte im Bett bleiben und der Avatar fährt in die Waschstraße, winkt den Nachbarn, wenn er sie sieht. Und hakt die ganzen anderen mühsamen Interaktion ab, die einem blühen, wenn man außer Haus geht. Ok, Fahrschein kaufen und Milch holen, das kann man auch bei Maschinen erledigen. Wie ist das eigentlich mit beichten? Ich muss mal wieder im Beichtstuhl meines Vertrauens vorbeischauen.
Auch zuhause kann man sich digital recht gut aus dem Weg gehen. Danke, Breitband. Und bei den unangenehmen menschlichen Konfrontationen verlässt man sich ohnehin fast nur noch auf das Digitale. Jemandem sagen, dass man ihn nicht mag. Jemandem sagen, dass man ihn mag. Jemanden zum Teufel schicken. Jemandem sagen, dass man ihn vermisst. Bald erledigt die KI auch den Bassena-Tratsch und die Stammtisch-Runde. Und vielleicht, oder eh schon, bespaßt die KI auch bald die Kinder durchgehend. Weil die wollen ja auch was von meinem Energie-Budget, das ich sonst für Online-Formulare, Handy-Parken und Warteschleife beim Internet-Provider reserviere. Wenn man Pech hat, ist man zu früh von der Arbeit nachhause gekommen und das Kind ist noch wach. Dabei wollte man doch so wie in den Filmen durch den Türspalt beim Kinderzimmer zufrieden seufzend auf ein schlafendes Kind schauen. Und alle möglichen Gefühle haben, die sich untertags zeitlich nicht ganz ausgegangen sind.
Einmal pro Tag Einhorn sein
Man würde ja so gern noch das „Kitzelmonster“ sein oder das „verrückte Einhorn“. Aber die anderen Menschen davor, die Chefin, der Kassierer im Supermarkt, die Autofahrer, sie wollten auch schon alle Aufmerksamkeit von mir während des Tages. Da bleibt nicht mehr so viel übrig am Abend. Gut, dass man die ehemals schönste Interaktion des Tages inzwischen auch schon ganz gut auslagern kann. Fürs „In-den-Schlaf-Schaukeln“ gibt es ohnehin schon Roboter. Aber wenn die Bälger größer werden, wollen sie „Gespräche“. Oder zumindest zuhören. Geschichten. Da engagiert man doch gerne „Sami“, den Lesebären etwa, von einem Spielzeughersteller, der auch Buchverlag ist. Der setzt sich auf ein Stück zukünftiger Plastik-Elektroschrott und legt los. Das Kind blättert dazu von Bild zu Bild.
Oder man verlässt sich auf Start-Ups, deren Gründer gar keine Kinder haben. Nur Neffen, die „Oscar“ heißen. Dem war das fade Vorlesen nie genug, so der Schöpfungsmythos der App, die Gute-Nacht-Geschichten erfindet, in dem die Zuhörenden selbst die Hauptrollen spielen können. Ah, wie schön, nachhause kommen und sich mit gar nix mehr auseinandersetzen müssen. „Nach einem gestressten Arbeitstag auf Kommando kreativ sein“, so haben die Entwickler der App das Problem eingekreist. Dabei wäre ja das „Gespräch“ mit den Kindern die tatsächlich schönste Interaktion des Tages. Weil bei „ergebnisoffenen“ Gesprächen, weiß man nie wie es ausgeht. Mit Kinder kann man über alles reden. Einhörner, Bratpfannen die sprechen, Kaffeekannen, die fliegen. Von welchem Erwachsenen kann man das schon behaupten? Mit Kassiererinnen und Kassierern im Supermarkt kann man nur über Rabattmarken und „Sammeln Sie Sticker?“ sprechen. Da gehe lieber zu 100 Kassa-Automaten am Tag, bevor ich mir die Gute-Nacht-Geschichte digitalisieren lasse. Und für alle, die „Alles steht Kopf“, den Film von Pixar gesehen hab: Die Quatsch-Insel im Kopf darf nicht untergehen. Auch als Erwachsener.
100 Rätsel der Kommunikation
Norbert Philipp bespricht in dieser Kolumne die dringendsten Fragen der digitalen und analogen Kommunikation: Muss man zu Chatbots höflich sein? Wie schreit und schweigt man eigentlich digital? Heißt „Sorry“ dasselbe wie „Es tut mir leid“?. Und warum verrät „Smoke on the Water“ als Klingelton, dass ich über 50 bin.