Präsidentschaftswahl

Auszählung in der Türkei läuft: Erdoğan fällt erstmals unter 50-Prozent-Marke

Anhänger von Präsident Erdoğan in Istanbul.
Anhänger von Präsident Erdoğan in Istanbul.APA/AFP/OZAN KOSE
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Der Vorsprung von Erdoğan auf Kılıçdaroğlu schmolz, je mehr Stimmen ausgezählt werden. Die Opposition warf der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu Manipulation vor. Erdoğan bezichtigte der Opposition hingegen, den „nationalen Willen" zu „rauben“.

Die Entscheidung über den Ausgang der türkischen Präsidentenwahlen fällt möglicherweise erst in einer Stichwahl am 28. Mai. Im Inland seien rund 95 Prozent der Wahlurnen ausgezählt sowie rund 37 Prozent der Urnen im Ausland, sagte der Chef der Wahlkommission, Ahmet Yener, in der Nacht zu Montag in Ankara. Demnach erhielt Erdogan 49,49 Prozent der Stimmen, Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu 44,79 Prozent. Zuvor hatte sich der Vorsprung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan immer weiter verringert. Eine Stichwahl ist erforderlich, wenn kein Kandidat in der ersten Runde mindestens 50 Prozent der Stimmen erhält.

Und kurz nach 22 Uhr war Amtsinhaber Erdoğan unter die 50-Prozent-Marke gefallen, berichten staatliche Medien - bei einem Auszählungsgrad von 88,59%.

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Neben den beiden gab es in der ersten Wahlrunde noch einen anderen, unbekannteren Kandidaten, nämlich Sinan Oğan, der nach vorläufigen Ergebnissen auf 5,3 Prozent kam. Oğan ist Kandidat eines ultranationalistischen Parteienbündnisses. Ein weiterer Kandidat, Muharram İnce, hatte sich aus dem Rennen genommen, trotzdem aber 0,46 Prozent der Stimmen erhalten.

AKP-Hochburgen zuerst ausgezählt

In ersten Auszählungen von Erdoğan zu Beginn vorne. Allerdings bezogen sich die Zahlen nur auf etwas über 60 Prozent ausgezählte Stimmen, die zudem überwiegend aus Hochburgen von Erdoğans islamisch-konservativen AKP-Regierung stammten. Anfangs hatte Erdoğan der Agentur zufolge nach 25,7 Prozent der ausgezählten Stimmen noch bei 54,3 Prozent gelegen.

Zahlen des oppositionsnahen Nachrichtenportals Anka zufolge lagen Erdoğan und Kılıçdaroğlu nach Teilauszählungen fast gleichauf - und beide unterhalb von 50 Prozent.

Erdogan sieht sich bei den Präsidentenwahl "mit Abstand vorne". Bis die vorläufigen Ergebnisse veröffentlicht werden, werde es aber noch einige Zeit brauchen, sagte er in der Nacht auf Montag vor jubelnden Anhängern in Ankara. "Den Willen des Volkes muss jeder respektieren", sagte er weiter. Man wisse zum jetzigen Zeitpunkt nicht, ob es eine Stichwahl geben werde. Im Parlament zeichne sich eine Mehrheit seiner Regierungsallianz ab. Er sei sich daher sicher, dass die Wähler in einer Stichwahl "Sicherheit und Stabilität" bevorzugen werden.

Kilicdaroglu trat in der Nacht gemeinsam mit den Parteichefs seines Sechser-Wahlbündnisses vor die Presse. "Erdogan hat trotz seiner Diffamierungen und Beleidigungen nicht das Ergebnis erreicht, das er sich erwartet hatte", sagte er. Die Opposition werde gewinnen und dem Land Demokratie bringen.

Die Wahl in der Türkei gilt als richtungsweisend und wegen der zu erwartenden innen- und außenpolitischen Auswirkungen als eine der weltweit wichtigsten in diesem Jahr.

Opposition und Regierung stritten um Ergebnisse

Opposition und Regierung stritten über die von der Staatsagentur veröffentlichten Ergebnisse. Die Opposition warf Erdogans islamisch-konservativer Regierungspartei "taktische Manöver" bei der Stimmauszählung vor. Ihren Angaben zufolge liege Kilicdaroglu knapp vorne, erklärten die Bürgermeister von Istanbul und Ankara bei einer gemeinsamen Pressekonferenz in der Hauptstadt. Die islamisch-konservative AKP Erdogans lege bewusst Einspruch gegen die Ergebnisse in Hochburgen der Opposition ein. Dadurch werde die Auszählung langsamer gemacht, und das Ergebnis falle zunächst zugunsten der Regierung aus. Der Chef der Wahlbehörde Ahmet Yener sagte, es gebe keine Probleme bei der Wahlbehörde.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan bezeichnete die Äußerungen der Opposition während der laufenden Auszählung auf Twitter als "Raub des nationalen Willens". AKP-Sprecher Ömer Celik wiederum warf der Opposition eine "diktatorische Haltung" während der Stimmauszählung vor, weil sie Ergebnisse frühzeitig bekannt gebe.

Ertim Orkun, Chef der unabhängigen Wahlbeobachter-Organisation "Oy ve Ötesi" ("Abstimmung und darüber hinaus") sagte, es gebe noch Wahlurnen, die ausgezählt würden. Dort gebe es noch kein Abschlussprotokoll. Es gebe auch Einspruch gegen Daten, die schon bei der Wahlbehörde YSK eingegangen seien. "Das verlangsamt naturgemäß die Dateneingabe."

Auch das Parlament wird neu gewählt

Auch im Parlament deutete sich ein knappes Rennen an. Nach Öffnung von 98,3 Prozent der Wahlboxen hat die Erdogan-Allianz nach Angaben von Anadolu die Mehrheit mit 49,3 Prozent der Stimmen knapp verfehlt. Das Bündnis um Kilicdaroglu käme demnach nur auf 35,21 Prozent der Stimmen. Selbst mit der Unterstützung der Allianz um die prokurdische HDP (10,5 Prozent) kämen sie nicht auf eine absolute Mehrheit.

Mächtigster Staatschef seit Atatürk

Der seit über zwei Jahrzehnten regierende Erdoğan ist inzwischen der mächtigste Staatschef der Türkei seit Atatürk. Allerdings hat seine Popularität gelitten, unter anderem wegen der hohen Inflation, die die Lebenshaltung für viele Türken drastisch verteuert. Kılıçdaroğlu hatte angekündigt, die Türkei wieder zu einer parlamentarischen Demokratie zu machen, die Befugnisse des Präsidenten zu beschneiden und die Unabhängigkeit der Justiz zu sichern. Zudem will er Friedenssicherung zum zentralen Bestandteil seiner Außenpolitik machen.

"Wir beten zu Gott für eine bessere Zukunft für unser Land, unsere Nation und die türkische Demokratie", hatte Erdoğan bei der Stimmabgabe in Istanbul gesagt. Sein Kontrahent Kılıçdaroğlu lächelte, als er in Ankara seine Stimme abgab und unter dem Beifall der wartenden Menge auftauchte. "Ich spreche all meinen Bürgern, die zur Wahlurne gehen und ihre Stimme abgeben, meine aufrichtige Liebe und meinen Respekt aus", sagte Kılıçdaroğlu. "Wir alle vermissen die Demokratie so sehr."

(APA)

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