Die türkische Bevölkerung stürmte die Wahllokale regelrecht. Die Parteien und Kandidaten mobilisierten bis zur letzten Minute.
Istanbul. Mittags musste ein Helfer im Wahllokal 1188 schon die Urne schütteln, um Platz für weitere Stimmen zu schaffen: Die grünen Umschläge mit den Stimmzetteln für Präsident und Parlament verkanteten sich beim Einwurf in die transparente Plastikbox, so hoch war der Haufen eingeworfener Stimmen schon. Mit energischem Ruck schüttelte der Helfer die Umschläge zurecht, und die Stimmabgabe konnte weitergehen. Als die Abstimmung um 17 Uhr Ortszeit endete, war der Kasten gut gefüllt und die Wahl reibungslos verlaufen. „Wir haben keine Unregelmäßigkeiten festgestellt“, sagte der italienische Parlamentarier Andrea Orlando, der das Stimmlokal als Wahlbeobachter für den Europarat inspizierte, der „Presse“.
Ein Mädchen mit Pferdeschwanz, eine Frau mit Kopftuch, ein älterer Mann mit Schiebermütze und zwei Burschen mit modernen Haarschnitten wachten im Klassenzimmer einer Berufsschule im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu gemeinsam über den korrekten Ablauf der Wahl zu Parlament und Präsidentenamt in der Türkei für die 315 Wähler ihres Stimmbezirks: Ausweis vorzeigen, Stimmzettel und Stempel entgegennehmen, in der Kabine stempeln, Umschlag zukleben und in die Plastikkiste stecken und schließlich beim Wahllokalleiter unterschreiben – knapp vier Minuten dauerte es am Sonntag pro Wähler, um Geschichte zu schreiben.
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Lange Schlangen vor dem Wahllokal deuten auf höhere Wahlbeteiligung hin
In den Klassenzimmern der Berufsschule und in rund 190.000 anderen Wahllokalen entschieden die Türken am Sonntag, ob es in ihrem Land mit oder ohne Präsident Recep Tayyip Erdoğan weitergehen soll. Eine Niederlage Erdoğans nach 20 Jahren an der Macht wäre eine historische Zäsur für die Türkei und der Beginn einer neuen Ära. Umfragen sagten einen knappen Sieg von Erdoğans Herausforderer, Kemal Kılıçdaroğlu, voraus. Wenn kein Kandidat auf Anhieb mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielte, fiele die Entscheidung über das Präsidentenamt in einer Stichwahl in zwei Wochen.