Morde an Indigenen, „Normalität“ in Auschwitz: Neue Filme von Martin Scorsese und Jonathan Glazer porträtieren den Teufel im Menschen.
Der zentrale Antagonist von „Killers of the Flower Moon“, dem jüngsten Film von Martin Scorsese, heißt William Hale. Doch er bevorzugt es, wenn seine Schäfchen ihn „King“ nennen. „King“ Hale, das kling ein wenig nach „King Hell“, sprich: Herr der Hölle. Selbst mit einem Namen wie Bert Beelzebub hätte Scorsese nicht deutlicher machen können, was diese Figur für ihn repräsentiert. Man könnte meinen, der 80-jährige US-Regie-Doyen sei hier zu weit gegangen mit dem für ihn so typischen christlichen Symbolismus. Doch William Hale, den einstigen „König“ der Osage-Hügel in Oklahoma, hat es wirklich gegeben.
In die Geschichtsbücher eingegangen ist der erfolgreiche Viehzüchter als einer der Drahtzieher hinter einer berüchtigten Mordserie an Mitgliedern des indigenen Osage-Stamms, die in den 1920er-Jahren verübt wurde. Journalist David Grann hat ein Buch darüber geschrieben, am Samstag feierte Scorseses Verfilmung desselben außer Konkurrenz bei den Filmfestspielen von Cannes Premiere. Dass Hale darin den teuflischen Täter gibt, ist kein Spoiler: Ein Krimi ist „Killers of the Flower Moon“ nicht. Vielmehr variiert Scorsese hier die gleichnishafte Erzählung seines letzten Epos „The Irishman“: Dort spielte Robert De Niro einen prototypischen US-Einfaltspinsel, der sich von einem mafiösen Versucher zum Henker abrichten lässt. Hier nimmt Scorseses jüngerer Stammschauspieler Leonardo DiCaprio diese Rolle ein, während De Niro den Satanas gibt.
Hauptunterschied zwischen den beiden Filmen ist das Setting: „Flower Moon“ spielt im ölreichen, ländlichen Osage County, das kleinstädtisch-pastorale Ambiente bildet eine ungewohnte Kontrastfolie für Scorseses ausladende Kino-Allegorie des amerikanischen Sündenfalls; ebenso die Inklusion einer indigenen Perspektive, hier verkörpert von der (bereits als Oscar-Kandidatin gehandelten) Lily Gladstone. Sie spielt die resolute Frau eines dümmlichen Kriegsheimkehrers (DiCaprio), der bei seinem jovialen Onkel Hale (De Niro) anheuert – und sich von diesem immer tiefer in ein übles rassistisches Mordkomplott hineintheatern lässt.
Wie „The Irishman“ ist „Killers of the Flower Moon“ – produziert vom Streaming-Arm Apples – eine rasant voranpreschende Parabel über die verderblichen Verführungen und devastierenden Wirkungen eines konspirativen, moralisch entgrenzten Unternehmertums, inszeniert mit Elan, Humor und viel Liebe zum historischen Detail. Allein, es bleibt ein schaler Beigeschmack: Die harsche Kritik und rechtschaffene Wut des Films ändert wenig daran, dass das hier angeprangerte Verbrechen an der indigenen Bevölkerung wie Staffage wirkt für eine weitere dreieinhalbstündige DiCaprio-und-De-Niro-Show: Das peinsame Austarieren der wechselseitigen Abhängigkeit von Antiheld und Antichrist ist das Primärspektakel, während Gladstones zu Beginn bemerkenswert selbstbewusste Figur vom Plot sukzessive still gestellt und zum (weitgehend) passiven Opfer degradiert wird. Das steht zwar durchaus im Einklang mit dem Gesamtkonzept des Films, wirkt aber angesichts seiner reparativen Bestrebungen nachgerade frivol.
Familienalltag eines KZ-Kommandanten
Wie leicht es Menschen oft fällt, himmelschreiende Falschheit und Grausamkeit aus Eigennutz auszublenden, darum geht es auch in Jonathan Glazers „The Zone of Interest“, einem der unheimlichsten und ästhetisch beeindruckendsten Beiträge zum bisherigen Cannes-Wettbewerb. Der historische Kontext ist besonders diffizil: Glazers (sehr freie) Adaption eines Romans des am Freitag verstorbenen Schriftstellers Martin Amis spielt an der Peripherie des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau und handelt vom Familienalltag des KZ-Kommandanten Rudolf Höss (Christian Friedel) und seiner Frau (Sandra Hüller). Gefilmt in schmerzlich klar ausgeleuchteten, demonstrativ distanzierten Totalen fokussiert der Film nicht auf den Horror des Lagers, sondern auf die vermeintlich trivialen beruflichen und privaten Tätigkeiten des Ehepaars: Haushaltsführung, Karriereplanung, Freizeitgestaltung, Beziehungspflege. Der Teufel muss gar nicht mithelfen: Das radikal Böse erscheint einem näher, als einem lieb ist.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.05.2023)